Valerie Tack - Rauw & alsof

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Ich bin zurückgekehrt,

denn das machen Mörder so.

Zurückkehren an den Tatort.

Er liegt nicht mehr auf der Fahrbahn, wo ich ihn vor ungefähr zehn Minuten zurückgelassen habe, sondern etwas weiter weg, zusammengesackt an die Mauer gelehnt, gegen die er mich kurz zuvor grob gedrückt hat. Er muss sich dorthin geschleppt haben; es gibt eine Blutspur. Er presst den einen Arm gegen den Bauch, um die Wunden zuzuhalten, aber es sind zu viele. Der andere Arm liegt neben seinem Körper, die Handfläche nach oben. Ein Passant könnte Kleingeld darin hinterlassen, aber hier kommt niemand vorbei. Sein Hemd ist durchtränkt. Er fühlt sich eiskalt an. Wenn ich nicht schnell etwas tue, wird er hier auf der Straße, an dieser Mauer totbluten, während ich gar nicht sicher bin, ob ich das eigentlich möchte.

„Hilf mir“, flüstert er, „hilf mir bitte.“

Seine Stimme bricht und ich streiche ihm durchs Haar. Ich versuche ihn zu beruhigen. Ich kneife in seine kalte Hand und streichle mit den Fingerspitzen die Innenseite seines Arms. Ich glaube nicht, dass er mich erkennt.

„Hilfe ist unterwegs“, sage ich, „es kommt bald Hilfe.“

Ich rufe einen Krankenwagen mit seinem Handy. Ich gebe die Adresse durch und beschreibe seinen Zustand. „Er atmet noch, hier ist überall Blut. Ein Überfall, glaube ich.“

„Beeilen Sie sich“, sage ich noch. „Er sieht schlimm aus.“

 

Ich lasse sein Handy in meine Jackentasche gleiten. Dann nehme ich ihm die Armbanduhr ab. Und sein Portemonnaie, das in der Innentasche seiner Jacke steckt. Danach lasse ich ihn zurück, zum zweiten Mal. Diesmal endgültig.

 

Zuhause lege ich die Sachen auf den Küchentisch. Sein Portemonnaie, die Uhr und das Handy. Im Portemonnaie stecken fünf Fünfzigeuroscheine, sein Ausweis und sein Führerschein. Außerdem zwei Bankkarten, ein Bibliotheksausweis und einige alte Fotos. Auf dem ersten sind seine Eltern. Er ähnelt seinem Vater, aber das wusste ich schon. Das hatte er mir erzählt. Dann ein Foto mit vier Kindern. Aufgereiht von groß nach klein. Er ist das zweite Kind, auch das wusste ich. Mädchen, Junge, Mädchen, Junge. Ein Passfoto von einem Teenie, ein Bruder oder eine Schwester, schwer zu sagen, es sei denn, man weiß es. Seine älteste Schwester, die immer ein Junge sein wollte und ein Junge wurde. Dem Wunsch ihrer, seiner Eltern zum Trotz. Und zuletzt ein Polaroidfoto. Eine junge blonde Frau. Wunderschön. Adeline. Seine große Liebe, sie, die immer dagewesen war.

 

Außerdem stecken in dem Portemonnaie noch Visitenkarten von Restaurants, Galerien und der Bar, in der er arbeitet. Und auch, sorgfältig doppelt gefaltet, der Papierschnipsel, auf den ich ihm damals in der Kaffeebar, vor knapp drei Monaten, hastig meine Telefonnummer gekritzelt habe.

Ich zerbreche.

Ich zerbreche und derweil zerreiße ich den Papierfetzen an den Falzlinien. Um nicht noch mehr zu zerbrechen.

 

Es ist keine Zeit für Tränen, ich muss ihn loswerden. Ich muss so schnell wie möglich alles, was mich in diesem Haus mit ihm verbindet, loswerden. Ich nehme ein Feuerzeug aus der Küchenschublade und verbrenne die Geldscheine, die Fotos, die Karten und die Papierschnipsel, die ich in die Spüle geworfen habe. Die Flammen flackern hoch auf und ich trete einen Schritt zurück, warte bis das Feuer abflaut und erlischt, bis nur noch ein Häufchen schwelende Aschereste übrig bleibt. Danach wickle ich sein Handy in ein Küchentuch und zertrümmere es mit einem Hammer. Mit seiner Uhr will ich dasselbe tun, überlege es mir dann aber doch anders. Es ist eine auffallend schöne Uhr und es muss doch irgendetwas von ihm geben, das ich behalten kann. Etwas, das mich an ihn erinnert. Die Kaffeetasse im Wandschrank reicht mir nicht. Ich brauche noch etwas. Er war anders, darum will ich mehr als nur diese eine Kaffeetasse. Er ist tief in mich eingedrungen. Er hat meinen Kopf aufgebrochen, sich darin festgesetzt wie eine Zecke, schon beim ersten Mal, als ich ihn im Supermarkt sah. Und später, nicht viel später, als ich ihn kennenlernte, sickerte er von meinem Kopf in meinen ganzen Körper. Er riss sich jedes einzelne Blutgefäß unter den Nagel, jede Faser, all meine Zellen, bis nichts mehr mir gehörte, sondern alles ihm.

 

Ich binde mir die Uhr ums linke Handgelenk. Vielleicht werde ich diese Uhr, mehr noch als die Kaffeetasse, später brauchen, um mich zu beruhigen. Um mich daran zu erinnern, dass er kein Hirngespinst war, dass er echt war, aus Fleisch und Blut. Das leere Portemonnaie und das Handy werfe ich in die Mülltüte, knote sie zu, bringe sie nach unten und lasse sie in den großen Müllcontainer im Keller fallen. Morgen kommt die Müllabfuhr. Dann ist er wirklich weg, zusammen mit dem Messer, das ich schon früher in einer der Mülltüten eines anderen Bewohners versteckt habe.

 

Sie werden mich finden, natürlich werden sie das. Sie haben uns zusammen die Bar verlassen sehen. Und da wären noch das Gemälde, die Fotos und der Zeitungsartikel. Sie werden mich finden und mir Fragen stellen. Ich werde gestehen. Ich werde die Schuld eingestehen.

Ich habe keine Angst.

Ich habe Todesangst.

 

Im Badezimmer spüle ich mir das Gesicht mit eiskaltem Wasser ab. Sein geronnenes Blut hat sich in meinen Handlinien und unter meinen Fingernägeln festgesetzt. Als ich in den Spiegel über dem Waschtisch gucke, setzt sich so was wie ein Schuldgefühl in meinem Nacken und auf meinen Schultern fest. Ich kneife die Augen zu. Versuche Tränen hervorzupressen. Vergeblich.

Ich wasche mich nicht.

Ich bin nicht ich selbst.

Ich bin schon tagelang nicht ich selbst.

Geht das eigentlich: nicht man selbst sein?

Denn: Wer bin ich dann?

Zurück in der Küche schrubbe ich meine Hände und Nägel sauber mit einer Spülbürste, bis meine Haut rot und rau aussieht. Es ist vier Uhr morgens und ich bin hellwach. In mir fängt es wieder an zu brennen, brennt es immer heftiger, als ob er hier jeden Moment zur Tür hereinkommen könnte. Ich drehe mich um. Ich erschrecke. Niemand da. Nur der Kater. Ich gehe zur Wohnungstür und kontrolliere, ob ich gut abgeschlossen habe. Dasselbe tue ich mit den Fenstern und der Terrassentür. Ich durchsuche alle Zimmer, schaue hinter jede Tür, in alle Schränke und sogar unters Bett. Niemand da.

Schließlich lasse ich mich aufs Sofa fallen und nehme meinen Laptop. Auf dem Bildschirm erscheint das Ergebnis eines Suchauftrags, das ich schon wochenlang offenstehen habe.

 

Art. 71 Es liegt keine Straftat vor, wenn der Angeklagte zur Tatzeit an einer Geistesstörung litt, die sein Urteilsvermögen oder die Kontrolle seiner Handlungen ausgesetzt hat, oder wenn er unter unwiderstehlichem Zwang gehandelt hat.

 

Ja, das war es. Ein Zwang. Ein unwiderstehlicher Zwang. Ich hoffe, dass er überlebt. Ich glaube schon. Vielleicht kann ich morgen mal im Krankenhaus anrufen. Nach ihm fragen. Dass ich diejenige bin, die ihn gefunden hat.

„Ja, er lebt noch, dank Ihnen.“ Ob ich nicht vorbeikommen wolle. Er möchte sich sicher bei mir bedanken.

„Nein, lieber nicht. Ich habe nur getan, was ich tun musste, was jeder getan hätte.“

Und jetzt, während der Kapitän es sich schnurrend auf meinem Schoß bequem macht, bläst er so langsam zum Rückzug. Er zieht sich aus meinem Körper zurück, hinterlässt mich gleichzeitig befreit und aufgelöst. Zuletzt verschwindet der rote Schleier seines Blutes vor meinen Augen. Ja, ich habe getan, was ich tun musste. Es war er oder ich.

 

+++

Da sind diese Bilder. Immer diese Bilder, die wir Erinnerungen nennen. Wie Dias – klick, klick, klick – rotieren sie in meinem Kopf. Immer wieder dieselbe Runde. Der Projektor steht auf Standby. Das Licht geht aus und das Summen schwillt an, weil irgendetwas einen zwingt zurückzublicken. Man wird, ganz kurz, von dem grellen Lichtstrahl geblendet, in dem der Staub seinen Totentanz beginnt, und dann kommen sie, die Bilder. Wie Kugeln sind sie. Gnadenlos. Sie dringen in deinen Kopf, dein Herz und deinen Bauch. Ich sitze sozusagen am äußersten Rand eines imaginären Stuhls, denn ich weiß nie, was kommen wird.

[Dia]

 

Ein kleines rosa Fahrrad. Ich kralle mich am Lenker fest, an den weißer als weißen Griffen. Im Übrigen bin ich völlig der Willkür meines Vaters ausgeliefert. Er hält den Sattel, auf dem ich sitze, mit einer Hand fest. Die Hand, mit der er Mutter schlägt und mir jetzt das Radfahren beibringt. Wenn er mich loslässt, fängt der Kampf gegen die Schwerkraft an. Ich falle, ich falle nicht. Ich falle fast. Ich falle. Er kommt zu mir gelaufen und kniet sich neben mich. Tröstet mich. Popelt kleinste Steinchen aus meinem Knie und spuckt auf seinen Zeigefinger, um die Schürfwunde sauberzumachen. Ich sehe ihn an. Sprachlos. Fragend.

„Das hilft“, sagt mein Vater, „wirklich.“

 

Auf einem anderen Dia steht mein Vater neben mir. Ich sitze auf dem Fahrradsattel, komme mit den Füßen so gerade an den Boden. Ich fahre jetzt allein, ohne Hilfe. Vater ist auf dem Weg zu den Öltonnen hinterm Schweinestall. Schleift Abfall hinter sich her, den er verbrennen will. Er wird ein Feuer machen. Kartons, Zeitungen. Die leeren Papiersäcke, in denen Maissaatgut, Hühner- und Kaninchenfutter war. Ein kaputter Gummireifen und ein Stück Plastik, das sich von der Abdeckung der Silage gelöst hat. Er gießt Benzin über den Abfall und zündet ein Streichholz an, in der Tonne, wo es geschützt ist, damit der Wind es nicht ausbläst. Er macht es mir vor.

„Guck“, sagt er.

Der Abfall fasst im Nullkommanichts Feuer und die Flammen schießen in die Höhe. Ich stehe viel zu dicht dran, er zerrt mich fluchend weg, aber ich will nicht. Ich möchte weiter in die Tonne gucken, mich am Feuer wärmen und sehen, wie alles verschrumpelt, schmilzt und verschwindet. Der schwarze, stinkende Rauch steigt mir in die Nase. Ich huste, Tränen laufen mir über die Wangen.

„Pass doch auf, Mäuschen“, sagt Vater und versucht, mich noch etwas weiter von der Tonne wegzuziehen. Ich sehe zum Ölfass, dann zu ihm, dann wieder zum Ölfass, dem Feuer und dem Rauch, der von uns wegtreibt.

„Der Wind steht gut“, sagt er.

In seinen Augen flackern zwei kleine Brandherde. Er verschränkt die Arme, nickt zufrieden. Er lächelt, legt mir die Hand auf den Kopf. Ich glaube zu fühlen, was er fühlt, wenn er die Öltonnen betrachtet, denn ich fühle es auch, obwohl ich erst fünf bin. In unseren Köpfen brennt dasselbe Feuer. Es desinfiziert und reinigt wie Spucke, wie Alkohol und entfernt alles. Wirklich alles, was sticht, eitert und vergiftet.

 

Erst Jahre später dachte ich zurück an die Öltonnen, an das Feuer und an das, was ich damals fühlte. Meier lernte ich auf den Stufen des Fakultätsgebäudes kennen. Das Semester hatte erst vor zwei Monaten angefangen. Er hatte kein Feuerzeug dabei. Wir kamen ins Gespräch und gingen einen Kaffee trinken. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag, den danach und noch viele weitere Tage. Wir verliebten uns, oder so schien es doch. Eine Woche lang waren wir unzertrennlich wie ein siamesischer Zwilling. Wo Meier war, war auch ich. Wo ich war, war auch Meier. Bis zu dem Moment, wo ihm klar wurde, dass er durch meine ständige Anwesenheit sein Studium vernachlässigte. Das Studium hatte er, wie er sagte, bevor ich kam, sehr ernst genommen. Vom einen auf den anderen Tag fand er, dass ich einen zu großen Teil seiner Zeit in Anspruch nahm und bat mich, nur noch spät abends zu ihm zu kommen, am liebsten alle zwei Tage. Und das tat ich. Weil er mich darum bat. Weil ich tun wollte, worum er mich bat. Ein halbes Jahr lang übernachtete ich jede zweite Nacht bei ihm, bis er mich eines Mittags anrief. Ob ich etwas abholen könne. Es sei dringend. Ob es heute noch ginge.

„Einen Karton“, sagte er.

„Was für einen Karton?“, fragte ich.

„Das siehst du dann schon.“

 

Meiers Karton stand schon im Flur. Es klebte ein Umschlag daran mit einem Brief. Ich setzte mich auf den Karton, der weniger stabil war, als er aussah, wodurch ich an einer Seite einsackte und riss den Umschlag auf.

 

In diesem Karton befindet sich alles, was dir gehört oder mit dir zu tun hat. Nur Weniges hat Bedeutung. Wie sollte es auch anders sein? Ich habe dich nie wirklich gekannt. Du kamst meist spät abends, legtest dich in mein Bett und schliefst ein, nachdem wir miteinander geschlafen hatten oder ich zumindest mit dir. Früh morgens gingst du dann wieder, häufig ohne dass wir ein Wort gewechselt hätten.

 

Wie soll man eine Beziehung mit jemanden aufbauen, der sich dafür nicht öffnet? Mit jemanden, der lieber schweigt oder ja, nein oder vielleicht sagt? Ich habe Geduld gehabt, ein halbes Jahr lang. Manchmal brauchen Menschen Zeit und ich war bereit, sie dir zu geben, aber du wolltest nicht, dass ich dich kennenlerne. Du bist für mich noch immer genauso rätselhaft wie am ersten Tag. Ich kann nicht länger in dich investieren. In uns.

 

Ruf mich nicht an, ich will dich lieber nicht mehr sehen. Nimm diesen Karton und alles, was darin ist, mit.

Meier

 

Von dem eingedrückten Karton aus, reckte ich mich ungeschickt nach der Klingel. Ich drückte achtmal. Achtmal kurz, Morse für „Fehler“. Zum Totlachen fand ich, aber ich glaube nicht, dass Meier das auch fand. Es war für ihn nur ein Grund mehr mir nicht aufzumachen. Er war zu Hause, ich hörte Geräusche. Das Geräusch kam näher und verstummte nach wenigen Sekunden. Vermutlich stand er jetzt an der anderen Seite der Tür und spähte durch den Spion in den Flur. Sah er mich auf dem Karton sitzen?

Er war es gewesen, der mir Morsen beigebracht hatte. Unermüdlich bis zum Überdruss tippte er, wenn ich in seinem Bett lag, mit dem Zeigefinger erst Buchstaben und später Nachrichten auf meine Arme, meinen Rücken und meinen Bauch, bis ich sie problemlos entziffern konnte. Es erregte mich, diese klopfenden Finger auf meiner Haut, das wohl, aber ich tippte nie etwas zurück.

Ich drückte noch einmal auf die Klingel. Ein Fragezeichen diesmal. Zweimal kurz, zweimal lang, zweimal kurz. Wieder dasselbe Geräusch, das erst anschwoll und dann wieder schwächer wurde. Die Tür blieb zu.

 

Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Boden und zog den Karton zu mir heran, außerhalb des Blickwinkels des Spions. Ich schüttelte ihn und überlegte, welche Schätze er für mich aufbewahrt hatte. Angeblich, wie er schrieb, nur Weniges von Bedeutung. Zum einen hänge ich wenig an Dingen, zum anderen würde ich die wenigen kostbaren Dinge, die ich habe, niemals bei jemand anderem lassen. Auch nicht bei Meier.

 

Mit meinem Hausschlüssel ritzte ich das Klebeband, mit dem der Karton sorgfältig zugeklebt war, auf. Ich fand vier Platten. Zwei von mir und zwei von ihm, die wir oft zusammen gehört hatten. Vier Bücher, ein T-Shirt, ein Pulli mit Löchern, drei Unterhosen, ein paar Haarspangen, Ohrringe, ein Foto von uns beiden, eine kleine Pfannkuchenpflanze, ein Ableger, den ich für ihn eingetopft hatte, weil ich Wohnungen ohne Pflanzen so traurig finde. Und schließlich die Tasse, seine Tasse, aus der ich morgens immer schnell, schnell meinen Kaffee trank, bevor ich zur Tür hinausstürzte, um zu einer Vorlesung oder nach Hause zu gehen.

 

Das T-Shirt und die Unterhosen waren gewaschen und ordentlich aufgefaltet. Das fand ich zwar rührend, aber ich wollte sie nicht mehr. Ich konnte sie sowieso nicht mehr anziehen. Den Gedanken, dass jemand anders meine Kleidung gewaschen und zusammengelegt hat, vertrage ich nicht. Davon fängt meine Haut an zu jucken. Das Einzige aus dem Karton, das ich mitnehmen wollte, war die Tasse. Die Tasse, in die er mir unzählige Male Kaffee eingeschenkt hatte. Sein wenig erfolgreicher Versuch, mich morgens länger bei sich zu halten als unbedingt nötig.

 

Mit Meier kamen die Tassen. Mit Meier fing ich meine Sammlung an. Von fast jedem Mann, mit dem ich eine Nacht verbracht habe, habe ich eine Tasse in meinem Wandschrank. Ich habe nicht darum gebeten, um die Tassen, sondern sie einfach mitgenommen. In den meisten Fällen tat ich das am ersten und einzigen Morgen, an dem ich in einem fremden Bett wach wurde, neben mir ein Junge, manchmal ein Mann, den ich am Abend zuvor kennengelernt hatte. Ab und zu verschob ich den Diebstahl um eine Nacht, höchsten zwei Nächte, nur wenn ich überzeugt war, dass ich meinen Liebhaber noch einmal wiedersehen wollte. Ein paar Mal wurde daraus nichts und es kam kein nächster Morgen, weil ich wider Erwarten überraschend schnell durch die Gegenpartei ersetzt wurde. Meine Sammlung ist deshalb nicht vollständig.

 

Meiers Tasse war meine erste, obwohl Meier nicht mein erster Liebhaber war. Das war Fischer, der Nachbarsjunge. Nachbar. Meiers Tasse mutet Englisch an, so adrett und edel, mit hellrosa Blumenmotiv und feinem goldenem Rand. Zerbrechlich wie Meier selbst, nicht wie die anderen Tassen, die ich normalerweise klaue. Meiers hat einen Ehrenplatz in meinem Wandschrank, denn ein halbes Jahr ist lang. Er war mein erster fester Freund, und wenn es nach mir ginge, wäre es zwischen uns noch lange nicht aus. Diese Tasse ist Glück im Unglück.

 

Von Meier hätte ich nie gedacht, dass er mich so plötzlich und buchstäblich vor die Tür setzen würde. Ich ging davon aus, dass er es nicht schlimm fand, dass wir auf diese Weise miteinander umgingen. Er hatte viel Stress durch sein Studium und wollte abends einfach noch ein bisschen Dampf ablassen. Im Bett. Sex und schlafen eben. Manchmal fernsehen. Mehr nicht. Er hatte mir so gut wie sofort deutlich gemacht, dass er nicht auf der Suche nach einer Beziehung war. Nicht mit mir und auch nicht mit jemand anderem. Sehr früh in unserer Beziehung, die seiner Meinung nach also keine war, sagte er auch, dass wir nicht kompatibel seien. Dass ich nicht ehrgeizig genug sei, jedenfalls nicht so wie er. Ich hatte einfach nur genickt, obwohl ich ihn hatte fragen wollen, woraus er schloss, dass wir nicht kompatibel seien, und was eigentlich verkehrt daran war, keinen oder wenig Ehrgeiz zu besitzen. Ich konnte natürlich ahnen, was er auf diese Fragen antworten würde, aber letzten Endes waren sie irrelevant. Es war, so wie er glaubte, dass es war, und ich hatte mich damit abzufinden. Mir ist es sowieso nicht so wichtig, Menschen von ihren Vorstellungen abzubringen.

 

Ich stand von dem Karton auf, weil ich wegwollte, weil ich nicht länger warten wollte, und holte ein Feuerzeug aus meiner Jackentasche, das ich an den Brief und den Umschlag hielt. Sie fingen sofort Feuer. Ich ließ das brennende Papier in den Karton fallen und wartete, bis auch dieser in Flammen stand. Danach zog ich die große, schwarze Haustür hinter mir zu.

Schade, dachte ich, als ich die Straße hinunterradelte mit Meiers Tasse in der Handtasche. Er gefiel mir, wirklich. Er war ruhig und beherrscht. Er wurde nie laut und trank auch nicht. Und ich mag Menschen, die so tun, als ob sie niemanden brauchen, und dabei trotzdem zerbrechlich, verletzlich wirken. Außerdem sah Meier gut aus. Groß, breit und stark. Und lieb im Bett. Ich konnte mich in seinen Schoß legen und sorglos einschlafen, während er Geschichten erzählte. Ich hörte ihm zu. Ich hörte ihm wirklich zu. Aber auf seine Fragen antwortete ich, wie er in seinem Brief schrieb, nur kurz und bündig.

 

Dass er ein Morse-Fan war, nahm ich einfach hin. Wie ich schon sagte: Es erregte mich merkwürdigerweise. Und diese Erregung und der Ernst, mit dem er studierte, waren letztlich der einzige Grund, warum ich ihn brauchte. 

 

Zum Reden hatte ich ja Misja.

 

+++

 

 

Er war es, der mich in die Enge getrieben hat. Der es mir letztendlich sehr leicht gemacht hat.

Ich wusste, dass es mit ihm gefährlich werden könnte, dass ich auf der Hut sein musste, doch ich war zu sehr von meinen Plänen eingenommen und blind für seine. Außerdem hatte ich zu viel getrunken.

 

Jetzt stehe ich hier. Mit dem Rücken gegen die Wand. In einer Straße mit unbewohnten Häusern. Es ist dunkel und gerade ist ein Sommergewitter losgebrochen. Dicke, warme Tropfen, die uns im Nullkommanichts durchnässen. Bis auf die Haut. Ich will ihn abschütteln, doch er greift nach meinen Handgelenken und drückt meine Arme über meinem Kopf gegen die raue Backsteinwand, als wolle er mich kreuzigen. Es reißt in meinen Achselhöhlen. Ich bin auf einen Schlag stocknüchtern.

„Du tust mir weh“, sage ich.

Er grinst. Ich versuche, mich los zu winden, aber er ist stärker. Er drückt sich gegen mein Schambein. Ich fühle seine Erektion durch seine und meine Hose hindurch.

„Das gefällt dir doch?“, sagt er.

Fragt er das, weil er an das eine Mal denkt, wo ich ihn gebeten habe mich zu schlagen? Bevor ich verneinen kann, steckt er mir seine Zunge in den Mund und drückt sich mit dem ganzen Körper an mich. Ich stecke fest. Bombenfest. Ich kann nichts anderes tun, als ihn machen zu lassen und abzuwarten, dass seine Aufmerksamkeit abnimmt.

Ich zähle bis acht.

Nein, bis neun.

Und bei zehn beiße ich zu.

Fest.

 

Ich beiße in seine Zunge und schmecke sofort Blut. Ich muss würgen und beiße deshalb noch fester zu. Er lässt mich los und tritt einige Schritte zurück auf die Straße. Er schreit, brüllt, jault wie ein geprügelter Hund und greift nach seinem Mund. Wischt und leckt das Blut auf seinen Lippen weg, während ich meinen Mund voll Spucke laufen lasse, um das Blut, sein Blut, zu verdünnen und ihm ins Gesicht zu spucken. Was für einen Anblick er jetzt bietet mit meiner Spucke auf seiner Wange: ekelhaft, siedend vor Wut. Seine Augen schimmern wie die Klinge eines Messers im Licht einer Straßenlaterne. Doch Angst habe ich nicht. Er wischt die Spucke mit dem Handrücken weg, stützt sich an der Mauer ab, beugt sich vor und beginnt zu würgen. Es wäre ein Leichtes, jetzt wegzulaufen, aber es gibt da etwas, das ich zu Ende bringen muss, und zwar jetzt. Ich ziehe ihn hinter mir her auf die Straße, wo es dunkel ist, wo er das Glitzern des Messers nicht sieht. Ich ziehe ihn hinter mir her in den warmen, strömenden Regen und lege meinen Kopf an seine Brust, streiche mit den Fingern durch sein Haar und flüstere, dass ich ihn will.

 

„Ich will dich“, sage ich. „Hier und jetzt.“

Ich reiße mich von seiner Brust los, um seine Reaktion einschätzen zu können. Er sieht mich sprachlos an, aber dann erinnert er sich wieder. Wie betrunken und geil er ist. Dieses Grinsen, sein brünstiges Grinsen. So ist das nun mal: Wenn ich meinen Körper als Köder einsetze, mache ich so gut wie immer fette Beute.

Ich küsse seine blutigen Lippen. Taste mit der Zunge an seiner entlang, die beschädigt ist. In meiner Jackentasche greife ich nach dem Klappmesser. Ich öffne es.

 

Ich zähle. Ich zähle nicht. Ich hole aus und glaube, dass ich ihn erwische, aber sicher bin ich mir nicht. Er schreit wieder, aber hier ist niemand, der ihn hört. Denn ich habe ihn hierher gelockt, in diese gottverlassene Straße, in der die meisten Häuser unbewohnt sind und wo nur selten jemand vorbeikommt.

 

Ich ziehe das Messer zurück, hole noch einmal aus und noch einmal und noch einmal. Der Bewegungsablauf ist so einfach. Deshalb tue ich es noch einmal. Dass es mich keine Mühe kosten würde ihn zu erstechen, hatte ich schon ab dem Moment gewusst, wo der Plan in meinem Kopf entstand. Aber mit jedem Tag hatte er mich gegen meinen Willen mehr erweicht und jedes Mal wieder hatte ich von meinem Plan abgesehen. Er war mir, und das gab ich nicht gerne zu, ans Herz gewachsen.

 

Bevor ich das Messer zuklappe, steche ich noch ein letztes Mal zu. Bevor ich es zurückziehe, mache ich noch eine Vierteldrehung. Es klebt in meiner Hand fest, während der Regen das Blut von meiner Haut und der Klinge spült. Währenddessen sieht er an sich herunter und betastet die weiche Masse, die sein Bauch ist, und die Stellen, wo ich das Messer hineingestoßen habe, es hinein habe gleiten lassen. Sechs Mal. Dann sieht er mich an. Sein Blick ist nicht mehr von Raserei erfüllt, sondern fragend, sogar fast flehend. Er öffnet den Mund, will etwas sagen, aber hat kaum die Kraft dafür. Ich nähere meinen Kopf dem seinen.

„Ja?“, frage ich. Und dann sackt er in sich zusammen.

 

Es ist still auf der Straße. Das Einzige, was ich noch höre, ist meine eigene Atmung und das Blut, das in meinen Ohren rauscht. Da liegt er jetzt mitten auf der Fahrbahn, in einer verlassenen Ecke der Stadt. Er hat seine schönen blauen Augen aufgerissen. Sein Mund ist ein wenig verzogen, auf den Lippen liegt noch eine Frage.

 

„Vogel?“, flüstere ich spöttisch. Das Blut, das aus den Stichwunden sickert, färbt sein Hemd karminrot. Ich zähle. Bis zehn. Und dann verschwinde ich.

 

Ich habe ein wildes Tier in mir. Verflochten in die DNA, die ich von meinem Vater geerbt habe. Schon früh, sehr früh, als ich noch ein Kind war, begann es sich zu rühren, aber es brach erst so richtig hervor, als er mich gegen diese Mauer zwang. Als er mir zeigen wollte, wieviel Macht er über mich hat. Als er dachte, ich würde ihm die völlige Kontrolle überlassen. Oder nein, das Tier war schon viel früher erwacht. An dem Tag, an dem ich ihn zum ersten Mal sah, auf der anderen Straßenseite, und dann später noch einmal in dem Café, wo ich ihm meine Nummer gab.

 

Oder, das kann auch sein, an jenem Sonntagmorgen. Als Mutter mich aus dem Bett klingelte. Vor heute genau einhundertdrei Tagen. Ja, ich zähle die Tage ohne ihn.

 

„Dein Vater“, sagte sie. Ihre Stimme bebte.

Ich wusste sofort Bescheid. Dass er tot war. Endlich. Aber warum sie deshalb so von der Rolle war? Das verstand ich nicht.

 

+++

[Dia]

 

Ich frage sie, warum sie all die Zeit bei ihm geblieben ist. Ihm, sage ich. Nicht Vater, Pa oder Papa.

Der Festsaal hat sich geleert. Die Trauernden sind nach Hause gegangen. Sie waren zahlreich, doch ihre Trauer war nicht aufrichtig. Es wurde gelacht. Viel gelacht. Und getrunken. Entsetzlich viel getrunken. Wie könnte es auch anders sein?

Ich empfinde Erleichterung und glaube, dass mein Bruder die auch empfindet. Er hält sich gerade und erinnert nicht länger an die Schildkröte, die er als kleiner Junge war. Der Angsthase, der bei jeder Bedrohung, wie klein sie auch war, den Kopf einzog.

Mutter ignoriert mich und fegt mit der Hand einige imaginäre Krümel vom Tisch. Sie fragt das Personal, das die letzten Gläser, Tassen und Platten abräumt, ob sie helfen kann. So ist sie, Mutter. Die Ober lächeln. Sparsam und höflich. So gehört sich das nun mal bei einer Feier wie dieser. Einer Feier in Moll.

„Nicht nötig“, sagt einer von ihnen. „Das ist unser Job.“

 

„Man tut, was man tun muss“, sagt sie, als ich ihr in die Jacke helfe.

Ich frage, ob sie möchte, dass ich mit ihr mitgehe. Nach Hause. Soll ich ein paar Nächte bleiben? Sie schüttelt den Kopf. Ich insistiere nicht. Mein Bruder und Marie, seine Frau, versprechen morgen vorbeizukommen.

„Kommen die Kinder mit?“, fragt Mutter.

Dass es doch schade sei, dass sie nicht dabei gewesen sind. Die Beerdigung ihres Großvaters zudem. Und dass es doch so schön sei, so tröstlich, kleine Kinder in der Kirche? Den Krach, den sie machten, nähmen alle doch gerne in Kauf?

 

Mutter lächelt. Sie liebt ihre Enkelkinder mehr als meinen Bruder und mich, aber – ich habe nachgehakt bei Misja und einigen Kollegen in der Schule – so ist das in allen Familien.

„Du wirst sie doch besuchen?“, fragt mein Bruder, als meine Mutter vom Parkplatz fährt.

Wir sehen ihr nach, bis sie außer Sichtweite ist.

Ich zucke die Achseln.

„Das musst du“, sagt er.

„Ich muss so vieles“, sage ich.

 

Früher ist eine Hure. Eine hässliche, alte Hure, zu der niemand mehr gehen will. Viel zu teuer und trotzdem wertlos. Und nutzlos. Und trotzdem geht man hin. Ab und zu zumindest. Weil es nicht anders geht. Meist aus Gewohnheit. Vielleicht aus Pflichtgefühl. Auch aus Mitleid. Denn wer denkt sonst noch an sie?

 

Obwohl es jetzt vorbei ist und wir wieder durchatmen können und uns nicht mehr ständig umzugucken brauchen, ob er nicht hinter uns her ist, weil er tot ist, die Radieschen von unten betrachtet, Futter für die Würmer geworden ist, zucke ich noch immer reflexartig zusammen, wenn ein Mann mir gegenüber die Hand erhebt. Dabei hat mein Vater mich nie berührt. Einmal hat er es versucht, aber damals hat sich mein Bruder ihm in den Weg gestellt. Hat ihn aufgehalten. Vater, den nichts aufhielt. Vater, der nie Widerstand kannte.

 

„Übertreibst du nicht?“, fragt Misja. Sie trinkt Kaffee. Lange und langsam.

Sie sieht mich an, vorsichtig, über den Rand ihrer Tasse hinweg, als habe sie sich selbst dabei ertappt, eine gefährliche Frage gestellt zu haben. Ich sage nichts.

 

Sie stellt ihre Tasse absichtlich neben die Untertasse, so bin ich das von ihr gewöhnt. Sie tut Dinge gerne anders, aber dann auch wieder nicht. Die Klamotten, die sie heute Morgen bei der Beerdigung anhatte, hat sie gegen eine locker sitzende Jogginghose und ein ausgewaschenes T-Shirt eingetauscht, das ich noch aus unserer Jugend kenne. Das Haar hat sie mit einer einzigen Spange hochgesteckt. Sie sieht jung aus, jünger als heute Morgen, jünger denn je. Als habe in ihrem Körper die Zeit stillgestanden.

„Ich mein ja nur …“, sagt sie, „ich bin immer gerne zu euch gekommen. Ich habe nie etwas davon gemerkt. Dein Vater war doch eigentlich ein ganz netter Mann, ganz anders als mein Vater. Weniger streng. Weniger grob.“

„Ja“, sage ich.

 

Wir spielen im Garten hinterm Haus. Wir kämmen unsere Puppen und ziehen ihnen Kleider an. „Sie müssen heute Abend zu einer Feier“, sagt Misja. Mein Bruder umkreist uns. Ob er auch eine Puppe darf. „Nee“, sagen wir wie aus einem Munde. Er läuft weg und kommt kurz darauf zurück. Mit meinem Vater im Schlepptau, in Overall und Gummistiefeln. Er hockt sich auf die Decke, die wir im Gras ausgebreitet haben. Da liegen sieben Puppen. Zu viele für uns zwei.

„Mäuschen“, sagt er zu mir. „Gib deinem Bruder doch auch eine Puppe.“

„Jungs spielen nicht mit Puppen“, sagt Misja.

Vater lacht und sagt: „Ach so.“ Er steht auf und blickt nachdenklich in die Ferne. Dann hüstelt er. Gleich kommt etwas Wichtiges. Wie sehen alle drei auf.

„Wenn Jungs nicht mit Puppen spielen dürfen“, sagt Vater, „dann dürfen Mädchen auch nicht Traktor fahren.“

Er zwinkert mir zu. Sofort drücke ich meinem Bruder eine Puppe in die Hand. Ich bin elf und will nichts lieber als Traktor fahren. Ich muss noch ein Jahr warten, sagt Vater, ein Jahr, das nicht schnell genug um sein kann.

 

Ich kenne Misja, seit ich klein bin. Das zählt. Und in all den Jahren habe ich ihr nichts darüber erzählt. Bis jetzt. Sie glaubt mir nicht. Sie findet, dass ich übertreibe. Ich nehme es ihr nicht übel. Mein Vater war tatsächlich eigentlich ein ganz netter Mann.

 

Misja sieht durchs Fenster zu den Kindern hinaus, die draußen spielen. Ich gucke mit. Sie winkt und die Kinder winken zurück. Auch ich hebe die Hand. Unsicher. Ich weiß nie, wie ich mich Kindern gegenüber verhalten soll. Wir sitzen am Küchentisch in Misjas Neubauhaus in dem Dorf, in dem auch meine Mutter wohnt und in dem seit ein paar Stunden mein Vater in einem Kirschholzsarg begraben liegt. Ich zupfe am Saum meines schwarzen Kleides, ziehe den Stoff nach unten. Mutter hatte es noch gesagt, als wir auf dem Friedhof standen und der Sarg ins Grab gesenkt wurde: „Viel zu kurz für einen Tag wie heute.“

Der Bestattungsunternehmer reichte mir ein Körbchen, in dem weiße Nelken ordentlich aufgereiht lagen. Ich stand einfach nur da, wie gelähmt, in einem viel zu kurzen Kleid, bis mein Bruder mich in den Rücken knuffte. Ich nahm eine Nelke und warf sie schnell auf den Sarg. Noch bevor sie auf dem Holz landete, hatte ich mich schon umgedreht.

 

Misja besteht darauf, dass ich zum Abendessen bleibe. Paul werde bald nach Hause kommen und sei es nicht schon lange her, dass ich ihn noch gesehen habe? Ich helfe ihr in der Küche, und als Paul eintrifft, steht das Essen auf dem Tisch. Er sieht mich mit so viel Mitgefühl an, dass es beinah komisch wird und ich lachen muss. Er schüttelt mir die Hand. Eine schlaffe Hand. „Mein Beileid“, sagt er. Er sagt es noch einmal. „Mein Beileid.“

 

Wir setzen uns und mir geht plötzlich auf, dass diese Familie neben meiner Familie die einzige ist, bei der ich je mit am Tisch gesessen habe. Deshalb bleibt mir das Essen im Halse stecken, so sehr nehmen mich die Gespräche zwischen Paul und den Kindern ein. Ob ich auch sterben werde, fragt mich der Jüngste auf einmal. Paul schluckt und es wird still. Die zwei älteren Kinder legen ihre Gabeln zur Seite, die Eltern auch. Sie sehen mich an und Misja schiebt ihre Hand auf meine, die ich rechtzeitig zurückziehe. Ich sage irgendetwas über junge Papas, alte Väter und sterben und frage die Kinder, wie es in der Schule läuft. Ob sie schon die Tage bis zu den Sommerferien zählen. Das Gespräch kommt von allein wieder in Gang.

 

„Tut mir leid“, sagt Misja, als ich gehen will.

Ich schüttle den Kopf. „So sind Kinder nun mal.“

Wir umarmen einander, sie riecht noch immer wie früher. Sie geht mit mir zum Auto. Ich steige ein und kurble das Fenster runter.

„Ich habe nicht geweint“, sage ich und schnalle mich an.

„Vielleicht kommt das noch“, sagt Misja.

„Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht.“

 

Jäger fragt, was los ist.

„Du guckst, als wäre jemand gestorben.“

„Kopfschmerzen“, sage ich.

„Geh duschen“, sagt er und entkorkt eine Flasche. „Schön übrigens, das schwarze Kleid, ein bisschen zu kurz vielleicht.“

Jäger ist ein Kollege. Er gibt Chemie und Physik. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Seine Ehe, sagt er, macht nicht mehr viel her.

Ich hatte das hier nicht geplant und wollte auf keinen Fall etwas mit einem Kollegen anfangen. Don´t shit where you eat. Aber er war beharrlich. Und ich kann zu Tassen so schlecht Nein sagen.

„Einmal dann“, hatte ich gesagt.

„Einmal dann.“ Er hatte genickt.

Ein charmantes Hotelzimmer am Stadtrand in fußläufiger Entfernung von meiner Wohnung. Er zieht die Vorhänge zu. Ich lege mich aufs Bett und nehme die Tasse entgegen, die er mir reicht. Kein Kaffee diesmal, sondern Champagner.

Es hilft, es hilft wirklich, sich in etwas vorübergehendem, zeitlich befristetem zu verlieren. Etwas, von dem man sicher ist, dass es nicht lange anhält.

„Hierauf warte ich schon so lange“, flüstert er und hilft mir aus dem Bademantel.

„Ich auch“, sage ich. Aber ich meine es nicht.