Lize Spit - Het smelt

Neun Jahre nachdem Eva, 27, ihr Geburtsdorf verlassen hat, um in Brüssel zu studieren und zu arbeiten, erhält sie eine Einladung zur Eröffnung der vollautomatischen Molkerei ihres Kindheitsfreundes Pim, die gleichzeitig auch eine Gelegenheit sein soll, seinem verstorbenen Bruder Jan zu gedenken, der dreißig geworden wäre. Erst wirft sie sie verärgert in den Müll, doch dann beschließt sie doch hinzufahren. Als Vorbereitung friert sie eine große Kiste Wasser in der Gefriertruhe eines Nachbarn ein und macht sich dann, am Morgen der Feier, mit dem Auto auf den Weg, im Kofferraum den Rieseneisblock.

 

Sommerferien 2002

Der Sommer 2002 ist ein merkwürdiger. Ein halbes Jahr liegt der Tod von Pims älterem Bruder Jan zurück, über den nichts Genaueres bekannt wurde, außer dass man den Sechzehnjährigen in der zum Hof gehörenden Jauchegrube gefunden hat, nachdem man diese leergepumpt hatte. Seitdem genießt Pim im Dorf so etwas wie Narrenfreiheit, denn alle haben Mitleid mit ihm. Diese strahlt auch auf die zwei anderen „Musketiere“ Eva und Laurens, den Sohn des Fleischers, aus, die seit ihrer Kindheit beste Freunde sind. Doch in diesem Sommer treiben die Hormone einen Keil in die Dreierfreundschaft, und weil Eva keine anderen Freunde hat und ihr Zuhause auch kein warmes Nest ist, tut sie alles, um gegen besseres Wissen weiterhin dazugehören zu dürfen.

 

Die Vorgeschichte

Eva wird 1988 geboren, drei Jahre nach ihrem Bruder Jolan und dessen Zwillingsschwester Tes, die die Geburt nicht überlebt. Drei Jahre nach ihr wird noch eine weitere Schwester geboren, die in Ehren der ersten Tochter Tesje genannt wird. Schon vor Jolans Geburt sind die Eltern vom nächstgrößeren Dorf ins winzige Bovenmeer gezogen, wo es von allem nur eins gibt – einen Fleischer, einen Bäcker, einen Lebensmittelladen, aber zwei Kneipen. Evas Vater arbeitet in einer Bank, ihre Mutter ist Hausfrau. Beide sind unglücklich, Alkoholiker und in verschiedenem Maße lebensmüde. Ein klassisches geordnetes Familienleben lernt Eva nie kennen. Von jeher sorgen vor allem die Kinder füreinander.

 

1993 wird Eva eingeschult, und da in ihrem Geburtsjahr außer ihr nur noch Pim und Laurens geboren wurden, werden sie kurzerhand zur nächsthöheren Klasse dazugesetzt.

 

Sommerferien 2002

Während Eva sich über ihre nicht wachsen wollenden Brüste ärgert, ansonsten aber noch ganz Kind ist, werden Pim und Laurens von der Hormonwelle überrollt und haben vor allem Mädchen und Sex im Kopf. Immer wieder ertappt Eva sie bei Gesprächen darüber, wie weit sie mit diesem oder jenem Mädchen schon gegangen wären, beim Pornogucken oder Masturbieren. Die Mädchen in der Schule haben sie nach einem Punktesystem bewertet.

 

Als ihnen Wahrheit oder Pflicht zu dritt nicht mehr genügt, erfinden sie aus Langeweile eine Variation auf das Spiel. Sie laden jeweils ein Mädchen von ihrer Punkteliste ein, dass ein Rätsel lösen muss, und jedes Mal, wenn es falsch rät, muss es ein Kleidungsstück ausziehen. Evas Aufgabe ist es, sich ein Rätsel auszudenken und Jury zu spielen. Sollte das Mädchen das Rätsel raten, bekommt es 200€. Diese Regel wird aus Mangel an Geld abgewandelt: Es darf es den Jungen etwas Beliebiges befehlen. Doch keins der Mädchen errät die Lösung. Und so geht es beim ersten Mal noch nur ums Angucken, dann ums Anfassen, schließlich um Oralsex. Eva macht zwar nicht aktiv mit, ist aber diejenige, die sich die „Strafen“ ausdenkt. Mit jedem Mal wird es Eva unangenehmer, aber das Vorhaben, Laurens von dem Spiel abzubringen, setzt sie letzten Endes doch nicht um.

 

Die Vorgeschichte

In der fünften Klasse kommt ein neues Mädchen in die Schule, Elisa, mit der sich Eva anfreundet, obwohl sie zwei Jahre älter ist. Sie wohnt unter der Woche bei ihrer Oma, die sich auch gerne Evas annimmt, so dass diese kurze Zeit in den Genuss eines warmen Mittagessens kommt. Doch Elisa interessiert sich eigentlich nur für ihr Pferd und dann für Jungs, so dass die Freundschaft nicht lange Bestand hat. In ihrer Trauer über das Zerbrechen der Freundschaft teilt Eva mit Elisas Pferd ihre Tüte Süßigkeiten, was diesem schlecht bekommt; es stirbt. Wenig später ist Elisa genauso plötzlich wieder weg, wie sie gekommen ist, ohne jemandem Bescheid zu sagen.

 

Sommerferien 2002

Die Situation bei Eva zuhause eskaliert immer mehr. Der Vater kommt immer später nach Hause. Die Mutter ist immer öfter schon früh am Tag und auch in der Öffentlichkeit sturzbetrunken. Die drei Kinder gehen unterschiedlich mit der Situation um. Jolan vergräbt sich in wissenschaftliche Bücher, Eva versucht, so wenig wie möglich zuhause zu sein, nur Tesje kann mit den Konflikten nicht umgehen und wird zusehends neurotischer, was Eva große Sorge bereitet. 

 

Zum Glück nimmt sich Laurens Mutter, die Fleischersfrau, Evas ein wenig an und hat immer ein offenes Ohr für sie. Als Anlaufpunkt für das ganze Dorf ist sie sowieso zuständig für die Verbreitung von Neuigkeiten und Gerüchten sowie das Vortäuschen von Mitgefühl.

 

Gegenwart

Eva erreicht am frühen Vormittag ihr Geburtsdorf und geht zuerst bei ihrem Elternhaus vorbei. Sie geht durch die Terrassentür hinein und wartet, ob ihre Eltern womöglich aufstehen. Sie verliert sich in Gedanken über ihre Kindheit. Als zweieinhalb Stunden später immer noch niemand aufgestanden ist, geht sie wieder.

 

Die Vorgeschichte

In der vierten Klasse setzt Eva alle ihr Hoffnung auf ein bisschen Wärme auf ihre Lehrerin, juf Emma. Sie macht sie sogar zu ihrem geheimen Gewissen, das sie überallhin begleitet und immer aus Vogelperspektive beobachtet. Doch auch das ist nicht von langer Dauer. Bei einem Klassenfest erwischt sie juf Emma, wie sie mit der Frau, die sie allen als ihre Schwester vorgestellt hat, in der Besenkammer herummacht. Juf Emma bittet sie um Verschwiegenheit, doch schon auf dem Weg nach Hause kann sie den Mund nicht halten. Sie verrät es Pim, der dafür sorgt, dass das ganze Dorf es erfährt, mit der Folge, dass Juf Emma entlassen wird und aus dem Dorf wegzieht.

 

Sommerferien 2002

Überraschend verbringt Elisa die Sommerferien bei ihrer Oma und diese lädt Eva ein, mit ihnen schwimmen zu gehen. Am See verrät Eva Elisa das Rätsel, das sie immer für das erweiterte Wahrheit-oder-Pflicht-Spiel verwendet, wohl wissend, dass Elisa die letzte in der Reihe der Mädchen ist, die Pim und Laurens damit reinlegen wollen. 

 

Gegenwart

Eva beobachtet den Bauernhof, um sicher zu gehen, dass alle Gäste, die sie dort erwartet, auch tatsächlich eintreffen. Dann beginnt sie mit den Vorarbeiten ihres Racheplans. Unter anderem legt sie den Eisblock aus ihrem Kofferraum in das Häuschen, in dem früher der Milchtank stand.

 

Sommerferien 2002

Pim und Laurens haben Elisa überredet, auch bei ihrem Spiel mitzumachen. Sie treffen sich diesmal in der Werkstatt von Evas Vater. Bevor sie endgültig entscheident, ob sie mitmacht, möchte sie da Rätsel hören. Eva erzählt es ihr: Ein Mann wird erhängt in einem Raum aufgefunden, unter ihm eine Wasserlache. Was ist passiert? Elisa tut so, also ob sie es nicht kennt und beginnt Fragen zu stellen. Nach einigen falschen Fragen „errät“ sie die Lösung: Er ist auf einen Eisblock gestiegen, um sich zu erhängen. Da sie richtig geraten hat, darf sie den Jungen etwas befehlen. Doch diese fordern, dass sie auf Eva bestraft, denn sie habe schließlich Elisas Pferd vergiftet. Elisa befiehlt allen dreien sich auszuziehen. Dann fordert sie die Jungs auf, dass entweder sie Eva entjungfern oder dass diese es mit Hilfe eines Spatenstiels selbst tut. Eva entscheidet sich für letzteres. Doch damit gibt sich Elisa nicht zufrieden, sondern befiehlt den Jungs, Eva zu befriedigen. Wenn ihnen das gelinge, dürften sie beide mit Elisa Sex haben. Laurens setzt sich auf Evas Brust, damit sie sich nicht wehren kann, Pim penetriert sie mit einem Blumenzwiebelpflanzer. Als Laurens Gewissensbisse bekommt und aufsteht, kann sie sich befreien, schlägt ihm mit einem Spaten ins Gesicht und flieht. 

 

Weil sie nicht weiß, wohin sie sich wenden soll, sucht sie bei Laurens Mutter in der Fleischerei Zuflucht. Doch deren anfängliches Mitleid, als Eva sich vor ihrem Verkaufstresen übergibt, schlägt in Ablehnung um, als Laurens mit einer großen Platzwunde zwischen Augen eintrifft und sie einen Zusammenhang erahnt.

 

Gegenwart

Eva schöpft Mist aus der Jauchegrube, in der sich vor Jahren Jan umgebracht hatte, wie sie damals erfahren hatte, und fährt mit dem Eimer zur Fleischerei, um ihn dort über den schon vorbereiteten Silvesterbestellungen des kompletten Dorfes auszugießen. Dann kehrt sie in das Milchhäuschen zurück, hängt einen Strick über einen Querbalken, legt ihn sich um den Hals und stellt sich auf den Eisblock. 

 

Sommerferien 2002

Eva radelt wieder nach Hause, um sich zu waschen. Dort trifft sie auf Jolan. Er reicht ihr schweigend seine Aufzeichnungen all der Rituale, die Tesje inzwischen für jede Bewegung braucht, sei es um von einem Zimmer ins andere zu gehen, das Fahrrad abzustellen oder zu essen. Kurzerhand packen sie ein paar Sachen für sie ein und fahren mit ihr zum nächsten Krankenhaus, um sie einweisen zu lassen. Zwei Jahr später wird sie in einer Pflegefamilie untergebracht.

 

Gegenwart

Eva, auf dem Eisblock stehend, will noch ein letztes Mal mit ihren Geschwistern telefonieren, kann aber nur Nachrichten hinterlassen. Geduldig wartet sie, dass der Eisblock schmilzt.

 

Beurteilung:

Het smelt ist ein sehr gelungener, wenngleich recht quälender Coming-of-Age-Roman. Er wird von der Hauptfigur und Ich-Erzählerin Eva in zwei Handlungssträngen erzählt, die ineinander verflochten sind und regelmäßig ergänzt werden durch thematische Kapitel, die zur Verdichtung der Atmosphäre dienen. 

 

In der Rahmenhandlung, die, abzüglich der kurzen Hinleitung, einen Zeitraum von zwölf Stunden umfasst, erzählt sie die Geschichte ihres Rachefeldzugs gegen ein ganzes Dorf vierzehn Jahre nach traumatischen Geschehnissen. Die Haupthandlung umfasst einen Zeitraum von gut einem Monat. Hier entwickelt die Autorin mit Liebe zum Detail die Lebensumstände, die dazu führten, dass Eva sich ihrem Widerwillen zum Trotz an die im „Freundschaft“ mit Pim und Laurens klammert und ihre Emanzipierung. Die eingeschobenen Kapitel vervollständigen das Bild des Dorf- und Familienlebens.

 

Was diesen Roman lesenswert macht, trotz seiner wirklich sehr trostlosen Geschichte, ist die Sprache: Dieses Buch ist sprachlich einfach wunderschön. Evas exakten Beobachtungen, anschaulichen Beschreibungen und niemals grundlosen Gedankensprüngen folgt der/die Leser/in auch dann noch gerne, wenn sie einfach nur noch aus Liebe am Erzählen geschrieben zu sein scheinen. 

 

Der banale, stille Antiklimax am Ende ihres kleinen Rachefeldzugs komplettiert diese Geschichte zudem perfekt. Die ewig unsichtbare Eva plant, genauso unauffällig aus dem Leben zu scheiden, wie sie gelebt hat – in der Hoffnung, zumindest eine Meldung in der Lokalpresse wert zu sein. Der Leser bleibt mit der Hoffnung zurück, dass sie womöglich doch noch rechtzeitig gefunden wird.

 

Die Autorin:

Lize Spit (*1988) wohnt in Brüssel und kommt aus einem Dorf wie Bovenmeer. Het smelt ist ihr Romandebüt. Sie schreibt Drehbücher, Prosa und Gedichte und hat bisher in niederländischsprachigen Literaturzeitschriften (Het Liegend Konijn, De Gids und Das Magazin) veröffentlicht. 2013 gewann sie sowohl den Jury- als auch den Publikumspreis des Schreibwettbewerbs Write Now!, dem größten Schreibwettbewerb im niederländischen Sprachraum für Teilnehmer zwischen 15 und 24.