Katrijn Van Bouwel - De Muze en het Meisje

1

Ich steige aus dem Bademantel in dieses stille Leben. Konzentriere mich auf den dumpfen Geruch der Ölfarbe und den beißenden Dunst des Terpentins. Neben mir bläst ein Heizlüfter. Fast genauso stark wärmt der summende Spot auf der anderen Seite. Mein Oberkörper wird so angestrahlt, dass die Schatten über meine Rippen und meinen Bauch fallen. Schlagschatten, weiche Rundungen. Wie eine Konkubine liege ich auf dem Podest. „Geht das so?“, fragt der Dozent. Ich nicke. Am Anfang ist keine Haltung unmöglich. Ich genieße die Wohltat der Decken und Kissen, das entzückte Schnurren meiner Muskeln. Wenn ich hier nicht zu Unterrichtszwecken läge, würde ich mich faul und träge räkeln und behaglich gähnen.

Die Zeit tickt dahin. Die Blicke fühle ich schon lange nicht mehr. Ich liege unter einer Glasglocke. Anwesend, aber unberührbar. Irgendwo in der Ferne tönen vage die Anweisungen des Meisters: „Skizzieren Sie erst das Volumen, dann die Details. Nicht zeichnen, sondern malen. Abstrahieren Sie die Einzelteile.“

 

Einerseits geht es um mich, andererseits überhaupt nicht. Nie werde ich so intensiv angesehen, nie fühle ich mich losgelöster und unerreichbarer.


„Welche Farbe bestimmt den Teint? Spüren Sie das Blau, sehen Sie das Grün am Hals?“
Ich rieche, wie meine Haut sich unter der Lampe und dem Heizlüfter erwärmt. Kleine Tröpfchen quellen vergnügt aus winzigen Poren, wie an einem ersten Frühlingstag im Park. Quell-Lust.
„Passen Sie beim Busen auf, nicht skizzieren, was Sie kennen, sondern was Sie sehen. Keine perfekte Rundung zeichnen. Da ist nichts Festes drunter – das ist alles nur Gewebe.“


Meine Sinne schärfen sich. Das Ticken der Taubenkrallen auf dem Dach, das matte Schmieren der Farbe auf der Palette, das Summen der Geräte. Der Druck der Lehne gegen meine Seite, die Federn des Sofas und der raue Stoff des Kissens in der Wölbung meines Rückens. Wie mein Herz im kleinen Finger klopft und meine Lippen mit jedem Einatmen etwas trockener werden.


Während die Zeit verstreicht, füllt die Luft sich immer mehr mit Terpentin. Der scharfe Geruch stumpft mich ab, hält mich aber immerhin wach genug, dass ich nicht ganz wegdämmere. Ich bin völlig benebelt und alles scheint noch langsamer zu gehen. Die Pinsel verteilen Farbklumpen auf der Leinwand. Schichten von Farbe und Geruch vermischen sich. Die Pinsel gleiten in großen Schwüngen über die Leinwand und in Gedanken über meinen Körper. Weicher als Lippen, eindringlicher als Finger. Mit jedem Strich fühle ich, wie sich die Härchen auf meiner Haut mitwiegen. Ich betrachte jedes Gelenk, jede Ader, jede Bewegung des Bauches. Nie beschäftige ich mich gründlicher mit mir selbst als jetzt. Auch wenn siebzehn Leute meinen Blick teilen.


Obwohl. Sie gucken zwar, aber sie sehen mich nicht. Sie studieren mich. Vor ihnen liegt keine junge Frau, sondern eine Aufgabe. Eine Obstschale für Fortgeschrittene. Ein Gewirr von Verkürzungen, Schatten und Farbnuancen. Ein verdrehtes Objekt, über das sie fluchen oder das sie inspiriert. Hinter den Staffeleien trägt jeder seinen persönlichen Kampf aus: den mit Perspektive, Proportionen und Farbtechnik. Die meisten verlieren ihn und starren dann verständnislos das Monstrum an, das von ihrer Hand entstanden ist. Ein Wesen mit Wasserkopf, verzerrten Proportionen und Beinen, die niemals einen Rumpf tragen könnten. Misstrauisch und missmutig gucken sie von der Leinwand zu mir, als sei es meine Schuld, dass ich auf ihrem Blatt als Kreatur auferstanden bin, die einem Gemälde von Bosch entsprungen sein könnte.

2

Nach dem Unterricht fällt es mir immer schwer, die Atmosphäre körperlich abzuschütteln. Ich bin eine Schlafwandlerin, erschöpft vom Posieren, und auch mein Hirn kommt nicht recht in Schwung. Alles ist zu aggressiv, zu laut. Was für eine brillante Idee, nachher noch etwas trinken zu gehen. Aber ich hatte keine Lust gehabt, mir schon wieder eine Ausrede einfallen zu lassen. Und so sitze ich an einem Tischchen in einer etwas zu hippen Bar. Ich unterdrücke den Drang, mich in einer Pose einzurichten und die dann zu halten. Berufsbedingte Macke. Es ist anstrengend, sich darauf zu konzentrieren, was Lisa erzählt. Irgend so eine Geschichte von einem Typen, der nach ihrem letzten Comedy-Auftritt bei ihr Eindruck schinden wollte. Ich setze mich gerade hin und stütze meine Ellenbogen fest auf den Tisch. Gerade fest genug, dass die Rillen des Holzes unangenehm in meine Haut drücken. Konzentrier dich, zerbrich die Glasglocke. Such Anschluss.


„Und dann hat er da gesessen und mir Komplimente gemacht und dann – als ob er mir damit die größte Ehre erweisen würde – hat er noch gesagt: ,Du bist echt witzig – also für ’ne Frau.‘ Er hat mich angeguckt, als müsste ich mich jetzt gleich in seine Arme werfen. Da hab ich gesagt: ,Und du bist ja echt sprachgewandt – für ’ne Amöbe‘ und hab mich umgedreht. Ich bin diese Männer so leid, die behaupten, eine Frau mit Humor zu suchen, aber damit eigentlich nur meinen, dass sie eine Schnepfe wollen, die über ihre Witze lacht. Wehe, sie macht selbst welche!“


Lisa verfällt wieder in ihr übliches Geplapper über die Comedy-Welt. Dass sie sich jedes Mal aufs Neue beweisen und gegen Vorurteile kämpfen müsse, obwohl doch einzig zählen sollte, was sie sagt und nicht, dass sie eine Frau sei. Wütend sucht sie nach einer Erklärung, warum ihr der Durchbruch nicht gelingen will. Sie sieht meinen Blick abschweifen und lächelt.
„Ich weiß, ich weiß, ich steig ja schon von meinem Steckenpferd. Die Amazone gegen das Testosteron.“
Sie legt feierlich die Hand aufs Herz und steht auf, um zum dritten Mal zur Bar zu gehen. Ob ich wirklich, ganz sicher nichts Anderes möchte? Ich lächle und zeige auf mein Wasser: „Ich muss morgen arbeiten.“
„Das heißt, morgen früh liegst du da wieder nackt herum?“
Sie sagt es mit einem unterdrückten Kichern und kann sich gerade noch verkneifen, mich kumpelhaft anzustoßen. „Oh ja, skizziere mich, zeichne mich, halt mich fest!“
Sie wirft sich ungeniert in eine eindeutig nuttige Pose und sieht nicht, wie die Hälfte der Kneipe sie anstarrt. Ich muss lachen. „So ist das gar nicht, das weißt du ganz genau. Das hat überhaupt nichts mit Verführung zu tun.“
„Mag sein, aber ich würde mich das nicht trauen.“


Das ist mir völlig unbegreiflich. Sie steht viel nackter auf der Bühne als ich. Wie sie da mit dem Mikro steht und das Publikum mit gekreuzten Armen vor ihr sitzt. „Dann zeig mal, dass du was draufhast, Mädel“, sieht man es denken. „Findest du dich witzig?“
Und dann feuert sie furchtlos einen Witz nach dem anderen ab. Eine Absichtserklärung, in der sie offenlegt, was sie berührt, was Humor für sie bedeutet. Wer sie ist. Mit dem Risiko, dass keiner lacht. Denn wer sich einbildet, mit Fug und Recht auf der Bühne zu stehen, der legt die Latte so hoch, dass er kaum drüber kommen kann. Nein, dann lieber einfach nur nackt. Außerdem wird sie mehr nach Äußerlichkeiten beurteilt als ich. Mein Körper wird nicht von einer Jury bewertet. Wie er aussieht, spielt für die Gruppe keine Rolle. Wichtig ist, dass er da ist. Und dass er vor allem still liegenbleibt. Aber bei ihr? Wer ins Scheinwerferlicht tritt, erklärt sich zur Zielscheibe. Das Äußere, die Kleidung, die Bewegungen: Alles wird gnadenlos filetiert. Wer zu schön ist, ist automatisch oberflächlich; wer zu hässlich ist, bedauernswert. Wer zu lässig ist, ein Macho; zu weiblich, eine Schlampe. Das gilt übrigens nicht nur für die Männer im Publikum, die kennen in erster Linie eine Kategorie: Würde ich mit ihr in die Kiste steigen oder eher nicht? Vor allem Frauen wetzen die Krallen und zerreißen sich das Maul. Es wundert mich immer wieder, wie hart Frauen über einander urteilen. Fies und falsch. Oder erscheint es mir schlimmer, weil ich von ihnen Solidarität erwarte? Nein, man nehme nur die Frauen aus „meinem“ Malereikurs.


Wenn sich in der Pause das Atelier leert, schlendre ich an ihren Werken vorbei. Ich folge dem Halbkreis und sehe mich aus den verschiedenen Blickwinkeln, die zusammen eine deformierte dreidimensionale Ausgabe von mir ergeben. Dass ich mich erkenne, ist selten. Und das noch nicht mal wegen fehlendem Talent. Mir fällt auf, dass die Frauen mich so malen, wie sie selbst sind. Die molligen betonen meine Formen. Kleine Frauen machen mich etwas gedrungener als ich bin, und dunkelhaarige verpassen mir eine südländische Glut. Sie malen immer wieder, was sie kennen und was ihnen vertraut ist. Innerlich klopfe ich ihnen auf die Finger: „Male, was du siehst, nicht, was du kennst.“

3

Ich warte auf Lisa. Sie hat sich inzwischen mit einem entfernten Bekannten festgequatscht. Sie lacht und legt die Hand auf seinen Arm. Ihr Gin Tonic schwappt über den Rand des Glases, den Tresen und seinen Pulli. Er scheint es nicht zu bemerken. Zehn zu eins, dass sie nicht einmal mehr seinen Namen weiß. Ich habe mich früher immer gefragt, wie sie das macht, so schnell einen so intensiven Kontakt mit Fremden aufzubauen. Innerhalb von fünf Minuten schafft sie eine Atmosphäre, als kenne man sich schon seit Jahren. Als sei sie ganz auf dich fokussiert und hättest nur du genau diese Wirkung auf sie. Bis ich rausfand, dass gerade ihre Begeisterung und ihre Jovialität die Leute auf sicherem Abstand halten. Die Illusion, ihre Bekenntnisse gäben etwas Einmaliges über sie preis, das nur du wissen darfst. Secondhand-Vertrautheit, erprobt und mit Gebrauchsspuren. Die Lüge der Exklusivität. Manche Leute halten sich verborgen wie Motten: Grau und unbemerkt flattern sie durchs Leben. Die Menschen vergessen gerne, dass sogar der bunteste exotische Schmetterling in seiner natürlichen Umgebung mit dem Ganzen verschmilzt. Auch Überschwang ist eine perfekte Tarnung. Inzwischen weiß ich ganz genau, was ich an ihr habe. Sie war auch die Einzige, die sich wegen Arbeit als Aktmodell nicht aus moralischen, sondern nur wegen der praktischen Gesichtspunkte Sorgen machte.
„Aber was ist, wenn du mal pupsen musst? Oder wenn das Bändchen von deinem Tampon auf einmal raushängt? Oder …“, sie schnappt dramatisch nach Luft, „… wenn da auf einmal jemand ist, den du kennst!“
Dabei ist das doch gerade, was ich will. Jemanden, der mich kennt, besser als ich mich selbst. Der in mir etwas sieht, das nicht verborgen bleiben kann. Weder für seinen Blick, noch für sein Blatt.


Inzwischen habe ich alle Bierdeckel auf dem Tisch systematisch in kleine Schnipsel zerrissen. Das Konfetti des Soziopathen. Das Fest des Neurotikers. Ich kremple meine Ärmel hoch und lache auf. Lauthals. Ein fetter Kohlestrich verläuft ungleichmäßig über meinen Unterarm bis an meinen Ellenbogen. Die Linie ist so beliebig, dass es schon wieder absurd ist. Vorhin im Unterricht stand plötzlich der Dozent neben mir. Ich bin nicht erschrocken. Der Luftzug hatte einen herrlichen Schauer über meinen Körper gejagt. Das Kräuseln, das über meine Haut glitt, lief an meiner Brustwarze zusammen, die ein wenig hart wurde. Er schwenkte ein Stückchen Kohle. Ob er mal eben dürfe? Schnell akzentuierte er für einen Anfänger, bis wo der Schatten auf meinen Arm fiele, und erklärte, wie man das mit Farbschattierungen auf dem Blatt umsetzen müsse. Der Student verschwand wieder hinter seiner Staffelei, sein Lernmoment blieb auf meiner Haut. Der Philosoph würde sich im Grabe umdrehen: Du sollst deinen Mitmenschen nicht als Mittel zum Zweck benutzen. Ach, Kant … Alles für die Kunst! Ich lecke meinen Finger an und wische das Schwarz weg. Fürs Leben gezeichnet.


Auf einmal sehe ich Wolfs Rücken an jenem letzten Abend wieder vor mir. Übersät mit Sommersprossen und Muttermalen. Ich verbinde sie fein säuberlich mit Kajal, auf der Suche nach Sternbildern. Auf seinem Hintern sitzend, nur mit einem Slip bekleidet, aus roter Baumwolle, schnörkellos. Die Zeit, dass ich mich in Strapse mit schlechtsitzendem Spitzenfummel gequetscht habe, ist schon eine Weile her. Ich beuge mich vor, damit ich an die Sommersprossen in seinem Nacken drankomme. Seine Jeans schiebt den Slip zwischen meinen Beinen zusammen. Kein unangenehmes Gefühl. „Mit ein bisschen Phantasie ist das hier Orion“, murmele ich und folge den Linien über sein Schulterblatt. „Und das hier müsste dann Pollux sein.“
Ich pikse ihn mit dem Kajalstift in die Seite. Er dreht sich um, wirft mich von sich ab und rollt sich auf mich. „Und du bist Venus“, flüstert er und beißt mir in den Hals. Sein Bart kratzt.
Erschrocken stoße ich ihn von mir. Er sieht mich beleidigt an. Ich halte die Hand schützend vor meinen Hals. „Du weißt doch, dass ich morgen Modell sitze!“
Sein Blick verdüstert sich.
„Ist denn mit diesem Unsinn immer noch nicht Schluss? Es gibt doch auch andere Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Hast du bei dem Restaurant angerufen, das jemanden sucht?“


Ich würdige ihn keiner Antwort. Ich kämpfe mich unter ihm hervor, ziehe die Decke über meine Brust und frage feinfühlig, ob der Herr Doktorand heute vielleicht endlich einmal an seiner Doktorarbeit gearbeitet habe. Er sieht mich vernichtend an. Eins zu null für mich. Zur Antwort rafft er Hemd und Schuhe zusammen und zieht ab. Der soundsovielte Abgang. Durch die Bewegung erkenne ich, dass Castor auf seinem unteren Rücken prangt. Ich will es ihm hinterherrufen, überlege es mir dann aber anders. Wenn man eine Sternschnuppe sieht, darf man sich etwas wünschen: Bleib weg. Das tat er.


Die Wochen reihten sich zu Monaten aneinander und auf einmal war er genauso lange weg, wie wir vorher ein Bett geteilt hatten. Mein erster richtiger Freund. Ich war vor allem in den Status verliebt gewesen, den er mir verlieh. Auserkoren in einer Stadt voller Studentinnen, von denen mir jede einzelne spannender erschien als ich. Verliebt in die Verwandlung, die ich dank ihm vollzog. Ich wurde eine Geliebte. Er promovierte über Klangpoeten. In meinem Kopf wurde er selbst einer. Er würde über Dichter schreiben und sein dichterisches Werk dann mir widmen. Ich sah mich schon durch ihn zu einem Gedichtband zusammengefasst. Ein Bild sagt zwar mehr als tausend Worte, aber es wäre immerhin ein Anfang gewesen. Es hat nicht sollen sein. Offenbar gehören zu so einem Plan immer zwei. Schade. Aber mehr als eine Erwähnung im Dankeswort seiner Doktorarbeit hätte ich von ihm sowieso nicht erwarten können.


Lisa schnipst vor meinen Augen mit den Fingern. Ich schrecke auf. Sie sieht mich forschend an. „Du denkst an Wolf.“
Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Bockig zucke ich mit den Achseln.
„Wegen dem, was du vorhin gesagt hast. Er konnte auch nicht verstehen, dass ich mich ,einfach so ausziehe‘, wie er es so charmant ausdrückte. Er fand, dass ich mich prostituiere.“
Meine beste Freundin nimmt mich in den Arm und drückt mir einen Kuss auf die Schläfe. „Ach Quatsch, Mila! Dafür zahlen sie echt nicht genug.“

4

„Zwei Damen, so ganz alleine. Ihr braucht doch sicher Beschützer?“ Zwei Männer von dem Typ, der in B-Movies den „erfolgreichen Geschäftsmann“ spielen darf, stehen vor uns.
„Ja, vor Typen wie euch“, zische ich durch die Zähne, wodurch Lisa sich fast an ihrem Getränk verschluckt und an so einer trendy Beere erstickt, die darin treibt. Bevor ich es richtig checke, haben sie sich schon zu uns gesetzt. Regel Nummer eins: Nimm immer eine große Tasche mit, um dein Territorium abzustecken. Normalerweise schreckt das die meisten Entdeckungsreisenden ab, nur heute leider nicht. Ich will sie loswerden, doch Lisa setzt auf einmal das fiese Grinsen auf, das ich nur allzu gut kenne. Die armen Jungs wissen nicht, worauf sie sich eingelassen haben. „So spontan! Das weiß ich doch am modernen Mann wirklich zu schätzen. Wollt ihr was trinken?“ Der große Blonde sagt lässig, dass er gerne einen Whisky hätte, und der andere Typ – der an drei Seiten seines Gesichts Mumps zu haben scheint – faselt was von einem Spezialbier.
„Phantastisch“, unterbricht Lisa ihn. „Würdet ihr uns dann Gin Tonics mitbringen, wenn ihr sowieso zur Bar geht?“ Einen Moment ist es still. Treudoof steht Mumpskopf auf. Regel Nummer zwei: Nimm für das Eindringen in dein Land niemals Perlen, sondern nur Feuerwasser an. Der Übriggebliebene fingert auffällig an seinem Krawattenknoten. Ein teurer Anzug von einer Marke, bei der guter Geschmack nicht im Preis inbegriffen ist. Dazu saubere Schuhe – mit Plastiksohle. Nach fünf Minuten wissen wir alles über Mathieus Büro, in dem nur die Besten arbeiten.
„Wow, lauter vielversprechende Talente … und du!“, gurrt Lisa, doch er hört sie nicht. Der Klang ihrer Stimme – erregtes Soprangesäusel – ist wichtiger als die Botschaft. Er schwafelt weiter übers Beraten und streicht sich mit der Hand durchs Haar – ein nervöser Tic, den er sich lieber abgewöhnen sollte, denn in drei Jahren wird diese Geste seinen zurückweichenden Haaransatz nur noch mehr betonen. Mumpsgesicht kommt mit den Gläsern zurück und setzt sich dazu, die Beine weit geöffnet, als ob seine Eier schwer entzündet seien. Das würde seine hohe Stimme erklären.
„Seid ihr Studentinnen?“ Er schafft es, ,Studentinnen‘ so auszusprechen, dass es wie eine Pornokategorie klingt. Manche Menschen können die seltsamsten Dinge. Evolution ist schon eine faszinierende Sache.
„Ich habe Philosophie studiert“, entgegnet Lisa liebenswürdig.
„Oh, là, là, dann sitze ich hier ja mit einer Philosophin!“, keckert Mathieu, wobei er sich flott choreographiert mit der einen Hand durchs Haar fährt, während er die andere auf Lisas Knie ablegt. Kleiner Fehler. Lisa sieht nur mit einer hochgezogenen Augenbraue hin. Er betrachtet seine Hand, als gehöre sie nicht zu ihm. Es ist deutlich, dass er sie nicht ohne Gesichtsverlust dort wegnehmen kann. Also bleibt sie liegen, klamm und unerwünscht, wie ein Taubenschiss auf dem Hut einer feinen Dame.
„Natürlich bin ich keine Philosophin. Ich habe Philosophie studiert. Das ist etwas Anderes. Geologen werden doch auch nicht zu Stein?“ Sie sagt es in einem Ton, als spräche sie mit einem ein wenig zurückgebliebenen Kleinkind. Mumpsgesicht – der in den vergangenen Minuten ebenso krampfhaft wie vergeblich versucht hat, Augenkontakt mit mir aufzunehmen – guckt auf einmal glasig, den Mund leicht geöffnet. Wie ein Mädchen, das Mascara aufträgt.
„Stein“, brabbelt er fast unhörbar. „Nicht zu Stein.“ Dann berappelt der Manager-des-Jahres-in-spe sich und übernimmt beherzt wieder das Ruder des Gesprächs.
„Für mich war das nichts, Philosophie. Wir mussten Ethik machen. Lächerlich, in einem Jurastudium.“
„Ja, was das wohl sollte! Philosophie: Lauter Männer mit Bärten und Sandalen“, piept Mumpsgesicht.
„Genau“, pflichtet der Sohn aus gutem Hause ihm bei. „Warum ist das eigentlich so, dass die alle Socken in Sandalen tragen? Das ist doch albern?“
„Umgekehrt wäre es erst recht albern“, antwortet Lisa trocken. Die Jungs sehen besiegt aus. Ihr Papierschiffchen ist ruhmlos gesunken. Mathieu wirft Mumpsschnute einen verzweifelten Blick zu.
„Und, äh … weißt du dann jetzt, was der Sinn des Lebens ist?“ Der Versuch ist rührend.
„Der Sinn des Lebens? Nein, den kenne ich nicht. Und auch nicht, ob ich in meinem Leben aktives Subjekt oder eher passives Objekt bin. Obwohl ich im Moment eher zu letzterem tendiere.“
Das Desinteresse, das sie zur Schau stellt, hat sie jahrelang perfektioniert. Die Männer geben auf. Sie stehen auf, labern was von „Getränke holen und bis gleich“, drehen sich dabei unnötig oft um die eigene Achse und stoßen nur so gerade eben beim Weggehen nicht zusammen. Regel Nummer drei: Bleib immer Terra incognita.


„Wie schade, dass sie uns keine Visitenkarten gegeben haben. Wäre schön gewesen für meine Sammlung.“ Keine Diva lässt eleganter abblitzen als Lisa.
„Aber was ich dir eigentlich gerade erzählen wollte, als diese Göttersöhne uns mit ihrem Besuch beehrten: Ich hab Neuigkeiten.“ Sie legt eine dramatische Pause ein, während sie meinen unberührten Gin Tonic gegen ihr leeres Glas austauscht. „Ich bin verliebt.“
Die Feierlichkeit, mit der sie das sagt. Als ob ich das noch nicht wüsste. Wie lange muss man befreundet sein, bevor das Verhalten des Anderen durchschaubarer wird als die eigenen Beweggründe? Dass sie sich häufig verliebt, hilft auch, die Symptome zu erkennen. Und der Knutschfleck.

5

Mein Auto hält in der Einfahrt. Ich mache das Licht aus und löse meinen Gurt, bleibe aber sitzen. Hinter dem Scheibenwischer klemmt ein Blatt. Mattorange. Ohne die reichen Schattierungen der umliegenden Äste und Farben wirkt es düster und bleich. Ich will nicht hineingehen. Dort wartet nichts auf mich. In diesem kleinen Raum hängen noch die Worte aus dem Gespräch von vor einer Stunde. Bevor sie ausstieg, musste ich Lisa versprechen, dass ich sie nächste Woche anfeuern würde. Bei ihrem ersten Comedy-Wettbewerb.


Draußen bildet der Regen Pfützen. Im Radio spielt Musik von weit weg und lange her. Die Tropfen klopfen immer lauter aufs Auto. Für einen kurzen Moment bin ich wieder sieben, auf dem Campingplatz, in den Herbstferien. Ein Herbstschauer sorgt für eine hypnotisierende rhythmische Untermalung auf dem Metalldach. Der Wohnwagen ist der einzige trockene Fleck auf Erden. Durchgefroren zittern wir nach einem kurzen Abstecher zum Toilettenblock zur Tür herein. Die Klopapierrolle klebt wie Papiermaschee an meinen Händen. Mit blauen Lippen wärmen meine Schwestern und ich uns an den Geschichten meines Vaters. Die Märchen sind genauso schrecklich, wie dieser Ort sicher ist. Ich kaue auf dem Ohr meiner Kuschelmaus. Mama macht Vanillepudding auf dem kleinen Herd. Dass der Pudding aus einer Tüte kommt und die Märchen aus einem Buch, das wir schon hundert Mal gehört haben, macht gar nichts. Am liebsten würden wir ewig in dieser blechernen Hülle bleiben. Irgendwie wusste ich damals schon, dass nichts von Dauer sein würde. Dass alles rostet.


Es gibt ein Foto von diesem Tag. Drei rote Nasen unter bunten Decken, mein Vater mit Bart, der zu meiner Mutter aufschaut. Erinnere ich mich nur deshalb an diesen perfekten Moment? Ich frage mich, was an dieser idyllischen Erinnerung echt ist. Hatte ich in Wirklichkeit keine kalten Füße, kniffen Laure oder Mare mich nicht heimlich unter der Decke? Oder hegte ich den feurigen Wunsch, von einem Königspaar adoptiert zu werden, weit weg von diesem Vater und dieser Mutter? Ich muss irgendwann einfach beschlossen haben: Ich hatte eine schöne Kindheit. Ich wurde geliebt, ich hatte keinen Grund zur Klage. Die Inspiration holte ich mir aus Fotoalben voller Kuchen mit Kerzen, stolzer Posen neben einstürzenden Sandburgen und breitem Lächeln auf dem Schoß von Tanten und Onkeln, die ich kaum auseinanderhalten konnte.


Es wird immer kälter im Auto, und die feuchte Luft kriecht durch die Ritzen und Spalten nach drinnen.
 Mein Atem macht Wölkchen. Ich klappe die Sonnenblende nach unten. Sehe mein Gesicht in dem kleinen Spiegel. Ich bringe meinen Mund näher heran und hauche mich mit einem Seufzer weg. Auf die beschlagene Oberfläche zeichne ich zwei Augen und einen breit lachenden Mund. Die Grimasse guckt mich stumm an. Mit einem Wisch bin ich weg. Ich steige aus und pflücke das kleine Blatt vom Scheibenwischer. In meiner Hand scheint das Orange im Dunkeln aufzuleuchten.


Erst Tee. Als erstes immer Tee. Ich weiß genau, wie lange es dauert, bis der Wasserkocher abschaltet. Einmal Jacke aufhängen, zweimal Katze streicheln, dreimal einen anderen Tee wählen – letzten Endes nehme ich doch immer denselben. Ich lasse den Kopf kreisen. Mache einen Katzenbuckel und bewege die Schultern. Drei Stunden Modell sitzen, zu lange in der Kneipe hocken, eine Fahrt und ausführliches Plaudern im Auto hinterlassen ihre Spuren. Ich stelle den Tee auf den Küchentisch, neben meine Tasche, die Schlüssel und das kleine Blatt. Das Buch, das ich letzte Woche im Antiquariat gekauft habe, liegt auch dort: Die Frau in der Malerei. Adlige, Göttinnen und Bäuerinnen in unterschiedlichen Stadien der Entkleidung. Seite um Seite zeigen sie sich. Umflort, gelangweilt, überrascht, sinnlich, keusch, gleichgültig, herausfordernd, melancholisch, in religiöser Verzückung … Sie sehen mich aus dem Jenseits an. Ich halte bei der Venus von Velazquez inne.


Sie liegt auf der Seite. Den Rücken dem Betrachter zugewandt. Den Kopf auf den Arm gestützt. Ihr Hintern in voller Pracht zentral. Auf den Hintergrund hat der Maler wenig Zeit und Farbe verschwendet. Es geht um ihren nackten Körper und sonst gar nichts. Eine drapierte Offenbarung. Eine Putte hält ihr einen Spiegel vors Gesicht. Im Spiegelbild sieht sie mich an. Hat sie diese Pose selbst gewählt? Oder hat der Künstler sie so hingelegt? War er während des Malens liebenswürdig, hat er Scherze gemacht oder war er kühl und leicht reizbar? War ihr manchmal kalt, hat sie sich gelangweilt, hat ihre Nase gejuckt, und wann hat sie einen Krampf bekommen? Es ist jedenfalls all die Beharrlichkeit wert gewesen. Tausende Menschen bestaunen sie in der National Gallery, Tag ein, Tag aus. Festgehalten für die Ewigkeit. Pobacken, die für immer sinnlich und voll bleiben. Nicht Haut und Knochen, kein schreckliches Skelett. Für immer prachtvoll. Und während die Männer altern, auf deren Netzhaut sie eingebrannt ist, bleibt sie jung. Ein Sinnbild des Lebens. Was macht es schon, dass niemand ihren Namen kennt? Wer von einem Maler auserkoren wird, stirbt nie.
Ob es wohl ihr Traum war, die ultimative Erfüllung ihres Lebens? Ob sie wohl „Aktmodell“ geantwortet hat auf die Frage „Was willst du denn später mal werden“?


Ich fand das als Kind eine verwirrende Frage. Ich war doch schon was? Konnte ich später nicht einfach dieselbe sein, nur anders, größer und mit länger Aufbleiben? Mein Stirnrunzeln konnte bei den Erwachsenen nicht auf Beifall rechnen. Also gab ich die probaten Antworten, wobei „Mama“ das meiste Gegirre erzielte. Kein Wunder also, dass ich das am häufigsten sagte, auch wenn es mir schon zu anstrengend war, meine Puppen ins Bett zu stecken. Was das betrifft, lag ich schon ganz richtig. Mit Kindern kann ich noch immer nichts anfangen. Mit Babys bleibt man mir auch besser vom Leib. Außer Putten. Und ich habe immer noch nicht die „richtige“ Antwort auf die Frage. Obwohl kein Familienfest vorbeigeht, ohne dass sie gestellt wird.
„Und, Mila, zwei Jahre nach dem Studium noch immer nichts gefunden? Was hast du denn vor, Mädchen?“
Dann sage ich nicht: „Ich werde in die Geschichte eingehen, und sei es als Fußnote. Das ist immer noch besser als all das Fußvolk, das als Leerzeile die Enzyklopädien füllt. Und wie läuft es so bei dir im Büro, liebster Onkel?“
Stattdessen antworte ich dann höflich, dass ich es noch nicht wisse und es mit meinem Abschluss eben schwierig sei. Dann sehe ich die Blicke über den Tisch huschen. Ich weiß, sie finden, dass mir eine Richtung fehlt, dass ich ziellos rumstümpere. Es ist schmutzig neben den ausgetretenen Pfaden. Ich bin auf dem Holzweg, wie man so schön sagt. Mama versucht dann regelmäßig, die Aufmerksamkeit auf ihre älteste und ihre jüngste Tochter zu lenken, die sehr wohl einen gradlinigen Parcours durchlaufen. Mit denen kann sie zeigen, dass sie als Erziehungsberechtigte eben doch nicht gescheitert ist. Die Jüngste hat schon vor dem Abschluss ihres Studiums genug Stellenangebote, um ein Leben zu füllen: Mit Bestnote bestanden. Die Älteste ist schon verheiratet und hat ihr ein Enkelkind geschenkt, auf das sie aufpassen darf: Glückwünsche der Jury. In den Tagen danach kann ich sicher sein, dass Mama mir drei oder vier Stellenangebote schickt.
„Bei einer Bank kommt man immer unter, wenn man studiert hat, Mila. Und sonst kannst du vielleicht Lehrerin werden?“
Ich werfe Venus einen genervten Blick zu. Wir verstehen einander. Würde ich irgendwann in so einem Werkverzeichnis landen? Öfter bewundert als jede beliebige Berühmtheit von heute? Ich lege das orangefarbene Blättchen auf ihren Po – Venus und Eva in einem – und klappe das Buch zu. Nehme einen Schluck von meinem Tee. Der ist kalt geworden.

6

Man gehe in ein Museum und untersuche, welche Gemälde am häufigsten betrachtet werden. Mache Striche bei jedem Werk, das die Aufmerksamkeit länger als eine Sekunde fesselt. Hake auf jeden Fall die obligatorischen Klassiker ab, die sogar die Kulturfernsten irgendwann in der Schule aufgedrängt bekommen hat. Die Bilder, die man als kitschige Reproduktionen, Becher und Lesezeichen im Museumsshop findet. Die zweitbeliebteste Kategorie? Werke, die vor einer Bank hängen. Rettung des lahmenden Museumsbesuchers. Wer bekannt werden will, besticht am besten einen Kurator, damit der sein Werk gegenüber einer Ruhebank anbringt. Ansonsten fangen vor allem die Nackten die meisten Blicke. Staatsporträts, Panoramas und Stillleben voller allegorischer Rätsel verschwinden dagegen im Nichts. Die rosigen Flecken Haut ziehen Besucher in Scharen an. Sie stehlen Heiligenbildern, Herrschern zu Pferd und historischen Schlüsselmomenten Betrachtungszeit. Busen und Po. Brust und Spiele. Alle stehen sie dort mit offenem Mund und staunen: Touristen mit einem Büchlein voller Werke, die man gesehen haben muss; Kunstliebhaber, Schulmädchen, die sich zwischen Ehrfurcht und Sehnsucht fragen, ob sie je so einen Körper haben werden, und Ältere, deren Finger sich erinnern, wie sich so ein Körper voller Leben anfühlt – der eigene oder der eines Anderen. Mit unverhohlen abwägendem Blick oder einem schiefen Nicken murmeln sie zotige oder intellektuelle Bemerkungen. Selbst wenn sie die Frau nicht attraktiv finden, ist ihr Anblick magnetisch. Ein Foto mit derselben Komposition so lange anzustarren, wäre völlig ungehörig. Ölfarbe macht Lust erhaben. Alle stehen sie dort bewundernd und werfen im Weggehen noch einen schelmischen Blick über die Schulter.


Ich war sechzehn, als ich plötzlich Auge in Auge mit der Venus von Urbino stand. Es schien, als habe sie mich zuerst gesehen, ein zartes Lächeln auf den Lippen. Ich lächelte zurück. Eine Stunde lang habe ich geguckt. Sie angeguckt, aber auch die Leute, die sie anstarrten. Ich sog alles in mich auf. Würden meine knospenden Brüste je einen Künstler inspirieren? Wie hatte sie es geschafft, einen Künstler so zu verzaubern, dass er ihr all sein Talent widmete? Auf einmal wusste ich es. Ich würde an mir feilen, bis jemand die Perfektion in mir erkannte und wusste: Das hier muss bewahrt werden.


Zugegeben, einen Plan für mein Unterfangen hatte ich nicht. Wo findet man sie, diese Maler? Während der ersten Wochen an der Uni in der großen Stadt bestand mein begrenzt ausgearbeiteter Angriffsplan hauptsächlich darin, mich mit schwarzumrandeten und Weltschmerz ausstrahlenden Augen in Künstlercafés bereit zu halten. Als ich darum einige Jahre später den Aufruf der Akademie sah, schien das Meer sich zu teilen und den Weg ins gelobte Land freizugeben: „Gesucht: Modell, nackt“.
Der Zettel verschwand schneller in meiner Tasche, als ich abwägen konnte, ob es eigentlich eine gute Idee war. Nur ein kleiner Fetzen Papier blieb an der Reißzwecke an der Pinnwand zurück. Wie alle Schlüsselmomente im Leben, erwies sich auch dieser als erstaunlich banal. Zehn Minuten Auf- und Abtigern, bis ich mich traute, die letzte Ziffer der Telefonnummer zu wählen. Die Frau im Sekretariat, die mir in routiniertem Ton einen Termin vorschlug. Sie war ernüchternd administrativ, die Bewerbung. Keine Schau für alle Lehrkräfte auf einem kleinen Podest. Keine Musterkarte mit Posen. Genauso wenig Fragen zu meiner geistigen Gesundheit. Die Sekretärin gab mir ein Blatt, das schon so oft kopiert worden war, dass hier und da Buchstaben nicht mehr lesbar waren. Einfach hier ausfüllen. Da die Verfügbarkeit angeben und nicht vergessen zu unterschreiben. Und dann würden sie mich anrufen.
Ich war lächerlich nervös, vor dem ersten Mal.

7

„Findest du dich denn so schön?“
Ich blinzle. Und wische das Wasser weg. Mein glasiger Blick reizt meine Schwester noch mehr.
„Kannst du dir echt vorstellen, dass dein Körper jemanden so sehr beeindruckt, dass er sich sofort schwärmerisch auf seiner Leinwand austobt?“
Ich nehme schnell das Handtuch vom Stuhl und drücke es an meine nasse Haut. Laure sitzt auf dem Klo und sieht mich ungeniert an. Sie pinkelt geräuschvoll. „Ich … äh …“, stammle ich, „ich weiß es nicht.“
Ich trockne mich ab, mir mehr denn je meines Körpers bewusst. Er fühlt sich schmutziger an als vor dem Duschen. Das Wasser bildet eine Pfütze auf dem Boden. Ich kann kaum erwarten, hier weg zu kommen. Aus dem Badezimmer. Aus diesem Haus. Studium abgeschlossen. Die Toilette spült und Laure nimmt meine Wimperntusche aus meinem Regalfach. Ohne sich die Hände zu waschen. Mit halbgeöffnetem Mund schminkt sie ihre Wimpern voll und dunkel. Zufrieden tritt sie einen Schritt zurück. Sie zwinkert sich zu. Lippen zum Kussmund. Ohne den Deckel zuzuschrauben, legt sie das Bürstchen an den Waschbeckenrand und geht aus dem Badezimmer. Der kalte Luftzug lässt mich schaudern. Ich nehme das Bürstchen meiner Wimperntusche und drehe es in das Röhrchen. Über zwei Stockwerke hinweg erreicht mich die schrille Stimme meiner Mutter. Ob ich jetzt bitte zum Essen kommen würde? Und ob ich auch nicht das ganze warme Wasser aufgebraucht hätte? Und ob ich den Wäschekorb mit nach unten bringen könne? Tonlos schreie ich mein Spiegelbild an.


Heute wundert es mich noch immer jedes Mal, dass wirklich niemand da ist, wenn ich aus der Dusche steige. Dass alles noch liegt, wo ich es hingelegt habe. Ich streife eine nasse Locke von meiner Wange. Aus dem Trockner hole ich ein warmes, weiches, großes Handtuch. Ein Luxus, den ich mir gönne, seit ich alleine wohne. Wer mit genügend Schwestern aufwächst, weiß die kleinen Dinge zu schätzen. Es waren nur drei wirklich gute Handtücher im Umlauf. Die lagen meist klamm zusammengeknüllt in Mares oder Laures Zimmer. Der Rest war entweder so verschlissen, dass die verblichenen Zeichentrickfiguren nichts mehr aufsaugten, oder waren bessere Waschlappen. Dreimal raten, was ich mir deshalb als Erstes kaufte, als ich auszog. Dekadente, daunenweiche Trockenheit.
Vor dem Spiegel schüttle ich die dunkelblaue Umarmung von mir ab. Ein Berg Frottee zu meinen Füßen. Daraus entspringen meine Waden, Oberschenkel, Venushügel und Bauch. Ich halte die Hände vor die Brüste. Meine Brustwarzen berühren die mittleren Glieder meiner Zeigefinger. Wenn ich Zeige- und Mittelfinger auseinander bewege, sehe ich das zarte Rosa. Meine Brustwarzen schnappen nach Luft wie Fische nach Brot. Mit einer schnellen Bewegung schließe ich meine Finger und kneife dabei das zarte, bis es hart wird. Ich betrachte kritisch meine Figur. Ich bin nicht dünn. Ich bin auch nicht dick. Ich habe einen ganz normalen Körper. Das ist genau das, was man braucht, um einzigartig zu sein.


Extrem dünne und dicke Menschen haben dasselbe Problem. Ihr Körper verliert seine Eigenheit. Je mehr man abnimmt, desto mehr wird man ein Skelett. Darin unterscheiden wir uns wenig voneinander. Man schaue sich nur einmal die Fotos aus den Konzentrationslagern an. Abgestumpfte, ausgemergelte Klone. Große Augen, zu viele Zähne, schmale Handgelenke. Derselbe Körperbau, eingehüllt in Daunen, wie kleine, kranke Vögelchen. Dasselbe sieht man bei fetten Menschen. Die Augen tief in den Höhlen zu Schlitzen, die Kinne auf der Brust, die klobigen Beine, die in die Schuhe schmelzen und über den Rand quellen. Alles bis zur Unförmigkeit verformt. Was einem Körper seine einzigartige Form gibt, sind Muskeln und ihre Bewegungen. Hungert man sie weg oder überdeckt sie mit Fett, bleibt nichts Eigenes übrig. Dicke Menschen sind dazu verdammt, sich auf dieselbe watschelnde und kolossale Art zu bewegen. Dünne Heringe ähneln einander in ihrem Mangel an Beweglichkeit. Untereinander perfekt austauschbar. Ich glaube, dass Menschen darum aufhören zu essen oder zu fressen anfangen. Um nicht mehr gesehen zu werden. Systemimmanent ignoriert.


Dann lieber meinen Körper, scheinbar gewöhnlich. Auf der Straße laufen die Leute an mir vorbei. Aber wenn ich mich ausziehe, sehe ich, wie ich mich von anderen unterscheide. Dass ich nur mir selbst ähnlichsehen kann. Ich bin kein Abguss. Was mich dann zu etwas Besserem macht als die anderen gewöhnlichen Mädchen? Sie haben nicht den Mut, sich so zu zeigen. Oder ihnen fehlt die Glut. Ich darf gesehen werden. Jetzt und in Ewigkeit, Amen.

8

„Da hinten können Sie sich umziehen.“
Er zeigt auf die Ecke des Raums. Ein alter Raumteiler schirmt sie vor neugierigen Blicken ab. „Und hier posieren Sie dann.“
Mitten im Raum steht ein kleines hölzernes Podest.
„Die Unterrichtseinheit dauert vier Stunden. Erst ein Stündchen Schnellzeichnen, dann eine kurze Pause und danach die Hauptpose. In zwei Sitzungen. Verstanden?“
Alle beginnenden Modelle werden zuerst in der Zeichenklasse eingeführt. Am abwechslungsreichsten und am wenigsten ermüdend, erklärte mir die Sekretärin sachlich am Telefon. Donnerstagabend. Und dass ich unbedingt einen Bademantel mitnehmen solle. Und wenn ich absagen müsse, dann bitte vierundzwanzig Stunden vorher. Es klang, als wäre ich nicht die Erste, die das tun würde.
„Was passiert denn eigentlich, wenn ein Modell mal nicht auftaucht?“, frage ich Herrn Desie.
„Dann rollen wir die Gipsmodelle raus.“
Er weist mit einer Kopfbewegung auf die Gipsabgüsse alter Meister. Griechen, Römer und einige Renaissancearbeiten.
„Aber die Studenten sind dann nur halb so motiviert. Als sei es weniger echt und deshalb weniger wichtig, dass sie sich anstrengen.“
Ich sehe, wie eine blasse Venus in der Hocke ihre Sandale anzieht. Ein Arm ist abgebrochen, wodurch ein heimatloses Handgelenk wie ein bizarrer Helfer die Riemchen mit schnürt. Sie blickt über die Schulter hinweg auf, als sei sie in Gedanken schon bei den Geschehnissen, für die sie sich gerade fertigmacht. Einen Liebhaber treffen, in den Kampf ziehen oder einfach nur die Küche fegen. „Gehen Sie sich schon mal umziehen, die Studenten werden gleich da sein.“

Die Tür des Raums schwingt auf und ein Dutzend Leute sucht sich einen Platz. Neugierig sehen sie mich an. Ich vermeide Blickkontakt und flüchte in meine Umkleideecke.


Der Wandschirm lässt mir gerade genug Platz, meinen Pulli auszuziehen, ohne etwas umzustoßen. Zu meinen Füßen herrscht Chaos. Leere Flaschen, Papierrollen, Dosen mit seltsamen Resten und verhärtete Stofflappen voll Farbe. An der Wand hängen Regalböden mit den unterschiedlichsten Gegenständen: Vasen, Masken, ein ausgestopfter Vogel, Muscheln, Schalen, Plastikfrüchte, Schädel und Lampen, die Kabel nachlässig aufgerollt. Dann kapiere ich es: Das sind Requisiten für ein Stillleben. Ich stehe beim übrigen Studienmaterial. Ich grinse. Hinter mir Rumoren und Plaudern, das hohe Ticken hölzerner Bleistifte, die aneinanderstoßen. Papier, das abgerissen, ein Schüsselchen, das mit Wasser gefüllt wird.


Ich ziehe mich weiter aus. Bluse, Rock, Schuhe. Ich trage ein Unterwäscheset. Ein Vergnügen, das normalerweise nur für eine aufregende Nacht reserviert ist. Eigentlich albern. Als würde irgendjemand das heute Abend zu sehen bekommen. Aber es gab mir ein Gefühl der Sicherheit, so aus dem Haus zu gehen. Im Bus erhob es mich über die anderen Leute, auch wenn ich halb in der Achselhöhle eines Mannes mit suppengeruchschwangerem Anzug stand und einer älteren Dame mit lautem, schleimigem Husten so gut wie auf dem Schoß saß. Ich trage ein Geheimnis unter meiner Kleidung. Wenn ihr wüsstet, was ich gleich tun werde, würdet ihr mich sicher anders ansehen. Oder überhaupt. Jetzt fühlt es sich ein bisschen blöd an. Aufgebrezelt und albern. Schnell Slip und BH aus. Die Spitze hat auf meiner Hüfte einen Abdruck hinterlassen. Tiefe Furchen verraten, wo der Slip saß. Durch die Erinnerung an Kleidung fühle ich mich noch nackter. Die Spuren lassen auf ein Mädchen schließen, das sich an- und ausgezogen hat, statt auf ein unnahbares Aktmodell. Lektion eins: An den Tagen, an denen ich Modell stehe, keine Unterwäsche oder Strümpfe anziehen, die sich abzeichnen.


Es ist kalt. Die Bürokratie lässt es nicht zu, dass die Heizung einer öffentlichen Einrichtung schon im September angeschaltet wird. Ich fische den Bademantel aus meiner Tasche und lege ihn mir um. Knote den Gürtel sorgfältig zu, sodass kein Dekolleté zu sehen ist. Idiotisch, mich für die fünf Meter noch einmal zu bedecken. Doch ein Aktmodell bin ich erst auf dem kleinen hölzernen Altar. Davor einfach ein nacktes Mädchen mit Gänsehaut. Auf bloßen Füßen überbrücke ich die Distanz. Unter meinen Sohlen Kohlekrümel und Staub. Herr Desie sieht mich kommen. Bevor ich das Podest erreiche, schießt er an den Staffeleien vorbei und hilft mir mit einer Hand hinauf. Er stellt mich nicht vor. Kein zeremonieller Moment, kein Protokoll.
„Wir fangen mit Schnellzeichnen an, zehn Minuten pro Pose, sechs Haltungen.“


Die Klasse ist still. Material in der Hand. Jetzt ich noch. Ich ziehe am Gürtel meines Bademantels. Der Stoff bleibt kurz hängen. Es scheint Minuten zu dauern. Dann fällt das Band auf den Boden und der Mantel auf. Ich lasse den Stoff von den Schultern gleiten und bleibe so stehen. Einen Arm über den Bauch gelegt, den anderen an meiner Seite. Den Blick schräg abgewandt, so gleichgültig wie möglich. Ich wage nicht mehr, mich zu bewegen. So dann? Keine Zustimmung, kein Applaus, kein Startschuss. Die Bestätigung erhalte ich durch das Geräusch von Bleistiften auf Papier. Das hier ist also meine erste Pose. Eine ungeschickte Haltung, als ob ich auf den Bus warte. Wenig inspirierend. Ich hoffe, dass ich nur mich selbst enttäusche.


Ich hätte besser darüber nachdenken sollen, aber wie üblich hat mich die Wirklichkeit überholt. Ich versuche, mich von außen zu sehen.  Durch die Berührung des Stoffes, der an meinem Körper entlanggeglitten ist, ist meine rechte Brustwarze hart geworden. Fällt das auf? Ist das seltsam? Ich habe keine Ahnung, wie viele Studenten hier sind. Zehn? Fünfzehn? Sechzig? Finden sie mich schön? Ist meine Pose gut? Wie sehen die anderen Modelle eigentlich aus? Meine Brustwarze ist inzwischen wieder in ihrem gewohnten Zustand. Muss jetzt radiert werden? Hätte ich doch Ohrringe anziehen sollen? Oder gerade nicht? Soll ich meinen Bauch einziehen? Ob wohl was Peinliches an mir hängt? Ein Krümel, ein Popel oder Klopapier? Mein Standbein wird ein bisschen schwer und beinahe verlagere ich automatisch mein Gewicht auf das andere Bein. Ste-hen-blei-ben. Ist es das, was ich erwartet habe? Soll ich lächeln? Das hier ist eigentlich ziemlich ermüdend. Wenn das schon so schwer ist, wie soll es dann erst während der langen Pose gleich werden? Wie lange stehe ich hier wohl schon? Darf ich mich schon wieder bewegen? Welche Pose soll ich gleich einnehmen? Irgendetwas kribbelt komisch an meinem Hals, was ist das bloß? Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass ungefähr zwei Minuten vergangen sind.


Den Rest der ersten Stunde berufe ich mich auf Posen, die ich von Gemälden kenne: eine der Grazien oder der David von Michelangelo oder sein Denker. Oder eher der von Rodin? Auch die hockende Venus fällt mir ein – es gehen einem schnell die Ideen aus, merke ich. Ich verstehe jetzt, warum sie aufblickte. Sie warf zweifellos dem Bildhauer einen flehenden Blick zu: Darf ich endlich aufstehen? Bist du endlich fertig? Ich bin wohl wackeliger als gedacht. Und um einiges weniger diszipliniert. Lektion zwei: Je ausdrucksvoller die Pose, desto mehr verlangt sie dem Körper ab. Aber es ist gut, dass ich mich darauf konzentrieren muss. So vergesse ich fast, wie ich hier zur Schau gestellt bin. Als ich auf allen Vieren knie – ich bin die Kapitolinische Wölfin –, fühle ich Luft zwischen meinen Pobacken hindurch an meinen Schamlippen entlangstreichen. Ich hatte vorübergehend vergessen, wie nackt ich gerade bin. Die Röte, die über meine Wangen gleitet, ist nicht nur eine der Scham. Lektion drei: Wenn man nicht aufpasst, gibt es immer jemanden, der Einblick hat. Übrigens auch, wenn man wohl aufpasst.

9

Über meinem Bett hängt ein Durcheinander an Skizzen. Seit Wolf abgehauen ist, mache ich, was ich will. Dutzende posierende Püppchen in Bleistift, Bister, Tusche, Pastellkreide, Holzkohle und Stift. Grobe Linien und ausgearbeitete Details. Zeichnungen, die sonst im Mülleimer gelandet wären. Die schönen Arbeiten liegen sicher verwahrt in großen Mappen und warten auf eine Jury. Ich nehme die Skizzen mit. Manchmal fische ich Entwürfe aus dem Papierkorb und bügle sie wieder glatt. Es hängt nichts dazwischen, was fertig wäre oder die Unterschrift des Urhebers verdiente. Kürzlich nahm ich auf Lisas Anraten einen Typen mit hierher.
„Siehst du den Kerl da, mit den dunklen Haaren? Ganz dein Typ!“


Zufällig hatte ich gesehen, wie sie eine halbe Stunde zuvor mit seinem Freund vor der Toilette herumgeknutscht hatte. Also ließ ich mir folgsam ein Getränk ausgeben. Zwei fünfte Räder, aus denen ein Tandem werden soll. Ganz mein Typ? Ich wusste nicht recht, ob ich beleidigt sein sollte. Andererseits wurde ihr Urteilsvermögen sicher durch den Jungen beeinflusst, der ihr gerade ins Ohr keuchte. Im Nachhinein konnte ich nicht rekonstruieren, warum es mir eine gute Idee erschienen war, ihn mit nach Hause zu nehmen. Die Fahrt nach hier war lang gewesen. Zu lang, als dass der Schwips aus der Kneipe mir erhalten geblieben wäre. Das Gespräch über niedrigere Mietpreise kurz hinter der Stadtgrenze war in einer dermaßen langweiligen Diskussion über Mieten versandet, dass es mir die einzige Lösung erschien, ihn auf direktem Weg in mein Bett zu lotsen. Mit vollem Mund kann man nicht sprechen. Dort angekommen verlagerte sich sein Interesse schnell von meinem Hals auf meine Wanddekoration.
„Zeichnest du?“, fragte er.
„Nein, ich bin Nacktmodell.“ Automatisch richtete ich mich auf und meine Stimme bekam etwas Herausforderndes.
„Also … bist das alles du?“
„Ja, alles.“
„Nackt … also ohne Klamotten.“
Er schien mir nicht gerade der Hellste zu sein, aber ich genoss sein Erstaunen. „Also, du ziehst dich aus, und dann zeichnen lauter Männer dich?“
Ich lächelte, streifte langsam mein Kleid ab und entledigte mich meiner Unterwäsche. „Ja“, sagte ich währenddessen. „So.“ Und ich wurde zur Venus von Botticelli, die aus dem Meer aufsteigt.


Seine Kinnlade fiel herunter und ich sah ihn gleichzeitig mit dem Drang ringen, mich von sich weg zu halten und anzusehen, und dem Verlangen, mich so nah wie möglich an sich zu spüren. Schließlich gewann die Gier. Ich schloss die Augen und fühlte den prickelnden Kontrast von Kleidung auf nackter Haut. Rauer Stoff, eine metallene Schnalle. Ich schob ihn aufs Bett und öffnete seinen Gürtel. Zog ihn Schlaufe für Schlaufe aus seiner Hose und legte ihn mir um. Er sackte bis zur Mitte meiner Hüfte. Eine Kriegerin, für den Kampf gerüstet.


Überstürzt zog er seine Klamotten aus. Ein idiotischer Anblick. Ein kleiner Junge, der nicht erwarten kann, ins Schwimmbecken zu springen. Er verhedderte sich fast in seinem Pulli. Genervt schloss ich die Augen. Ich hörte, wie er den Reißverschluss öffnete und Hose und Unterhose in einem abstreifte. „Du vergisst die Schuhe!“
Ich wollte es noch sagen, ließ es dann aber. Gemurmelte Flüche. Es hätte witzig sein können, wenn es nicht typisch für die Männer wäre, die in meinem Bett landen. Er gab es auf und zog mich an sich.
„Und dann stehst du da also und prunkst mit deinen Titten, du scharfes Luder!“
Lieber Himmel, halt bloß den Mund, dachte ich, doch öffnete stattdessen meine Beine und ließ ihn sich zwischen meine Schenkel manövrieren. Keine Lust, in Kontakt zu treten und zu fragen, ob er nicht ein Kondom benutzen wolle. Er schien mir nicht der Typ, der in seinem Leben schon oft Gelegenheit gehabt hatte, sich mit einer Geschlechtskrankheit anzustecken. Seine Finger, die halbherzig zwischen meinen Beinen herumfummelten. Nur eine Formalität. Er haspelte sie ab wie ein Kind, das sich durch sein Gedicht für den Weihnachtsmann arbeitet und das Ende herbeisehnt, um endlich die Geschenke auspacken zu dürfen. Dann hievte er sich hoch und schob sich in mich. Ich hörte bei jeder Bewegung das Geräusch der Hose auf seinen Knöcheln. Dass er mit einem Auge die Zeichnungen ansah, erregte mich mehr als die Art, er in mich stieß. Ich sah ihn gebannt das Mädchen angaffen. Die wundervolle Bohemienne in all ihren Facetten. Und ich sah mich durch seine Augen. Ein Sinnbild der Lust. Der Gürtel drückte auf meiner Hüfte. Kniff. Tat herrlich weh. Der Gürtel der Aphrodite.


Danach beförderte ich ihn im Schnellverfahren aus dem Haus. Ich zog nur ein langes, weites Hemd an und fuhr ihn zur Bushaltestelle. Er wusste nicht, dass er noch mindestens eine Stunde auf den Nachtbus würde warten müssen. Ich schon. Als ich wieder in der Einfahrt stand, fuhr ich meinen Sitz nach hinten, knöpfte mein Hemd auf und schob mir die Finger zwischen die Beine. Ich sah wieder vor mir, wie er sich an meinen Zeichnungen aufgeilte. Wie er nicht mich fickte, sondern die Idee, die ich verkörperte. Die andere Hand auf der Brust, um zu fühlen, wie mein Herz schneller schlug. Ich öffnete die Augen, kurz bevor ich kam, und sah den Himmel und die Sterne durch meine schmutzige Windschutzscheibe. Der Spermafleck dieses Abends ziert noch immer das Polster meines Sitzes. Auch der Gürtel hängt noch immer wie eine Trophäe an meinem Bettpfosten.

10

„Ich bin nicht enttäuscht oder so. Aber es ist doch nicht ganz so, wie ich es mir vorgestellt habe.“
Ich stehe vor Lisas Umkleidekabine. Sie versucht, ein geeignetes Kleid zu finden. Nach ihrem ersten Wettbewerb ist sie ziemlich ratlos, was sie auf der Bühne am besten anhaben sollte.
Ihre Witze seien zwar gut, lautete das Urteil, doch aus ihrem Mund klängen sie unglaubwürdig. Sie seien entweder zu derb oder einen Tick zu unsicher. Sie brächte sie nicht gut. Und sie passten schon gar nicht zu ihrem roten Bleistiftrock. Sie hatte kurz erwogen, dann eben in T-Shirt, Jeans und Kapuzenpulli aufzutreten wie ein typischer Comedian. Aber als sie sah, wie wenig dieser Look ihr schmeichelte, entschied sie sich zum Gegenangriff. Und darum standen wir nun hier, in Geschäft Nummer sechs.
„Du meinst, mit dem Verewigen und so?“
Lisas Stimme klingt erstickt. Das Mädel sollte sich wirklich mal die Mühe machen, den Reißverschluss zu öffnen, bevor sie ein Kleidungsstück über den Kopf zieht. Ein erleichterter Seufzer erklingt auf der anderen Seite. Dann lugt sie durch den Spalt im Vorhang. Ein verwuschelter Schopf über einem roten Gesicht.
„Vielleicht hast du einfach noch nicht das Richtige gefunden. Und würdest du mir wohl dieses hier eine Nummer größer suchen? Deprimierend kleine Größen haben sie hier.“
Sie drückt mir ein gelbes Knäuel und einen Bügel in die Hand. Ich laufe durchs Geschäft.


Der durchschnittliche Student der Kunstakademie hat sich nicht als die Art Künstler erwiesen, die ich vor Augen hatte. Zwei Drittel sind pensionierte Frauen, die in ihrer Jugend nicht auf die Akademie durften, und jetzt einzig den Ehrgeiz hegen, Pastellbilder fürs Wohnzimmer zu malen. Der Kurs „Aktzeichnen“ ist für sie einfach nur Teil der Ausbildung. Dann gibt es die Studenten, die sich für Künstler halten. Ihre Selbstüberschätzung entspricht dem Maß, in dem ihnen Perspektive ein göttliches Mysterium bleibt anstatt eine Reihe überschaubarer Regeln. An meiner konzentrierten Anstrengung liegt es jedenfalls nicht. Ich liege dort unnahbar, einladend. Ich unterdrücke Unannehmlichkeiten und Schmerzen. Nur für sie. Lernt malen, ihr Idioten! Das ist ein gefährlicher Moment, weiß ich, wenn der Ärger aufwallt. Wenn selbst mein Kopf wütend wird, von der unterdrückten Wut meines gepeinigten Körpers. Und dann diese Stimme an meinem Hals, ein falscher Liebhaber, der mein Haar mit bissiger Zärtlichkeit wegstreift und mir meine verborgensten Ängste einflüstert: „Sieh nur, wie du hier liegst. Als Betrachtungsobjekt für einen Haufen Amateure. Kaum Anwärter auf Plätze in den Kunstenzyklopädien dabei, denkst du nicht?“


Verbissen laufe ich die Kleiderständer entlang. Bingo! Die Quelle des gelben Kleids. Dutzende Kleider versprechen der Trägerin einen einzigartigen Stil, voll im Trend. Ich fische die richtige Größe heraus. Es muss einfach klappen. Es muss.


11

Eine Brasserie von der Sorte, bei der die Fülle der Wahlmöglichkeiten einen so in die Enge treibt, dass man die Klassiker bestellt – die dem Laden am meisten Geld einbringen. Wo der Koch auf feste Werte zählt, um seine Küche den Massen schmackhaft zu machen: Salz, Sahne, Butter und Zucker. Die Vierfaltigkeit des hirnlosen Fressens. Neben uns genießen zwei Damen fortgeschrittenen Alters einen Verwöhnkaffee mit Schuss. Sie sehen ihn so freudig an wie ein Kind seinen Schuh am Nikolausmorgen. Lisa sagt einen Tick zu laut, dass zu einem echten Verwöhnkaffee mindestens ein Negerdildo als Löffel gehören müsse, und der Kellner nimmt mit verkniffenem Mund unsere Bestellung auf. Sie nimmt die Tagessuppe – denn: „Vielleicht sollte ich ein bisschen abnehmen…“ – und ich auch – denn: Das ist das Billigste, und dann habe ich Essen und Trinken in einem. Neben ihr, auf dem Ehrenplatz am Kopfende des Tisches, glänzt die Beute.


Nie wird eine Trophäe so triumphierend mitgeschleppt wie das perfekte Kleidungsstück. Kleid Nummer zwölf erwies sich als die mathematisch perfekte Kombination von „schön, aber nicht langweilig, und zugleich gewagt, aber nicht nuttig“. Wenn ich es beziffern sollte, ist es gefühlt das siebte Stück, das diese Saison den Kriterien entspricht. Ich muss zugeben, dass meine Hilfe beim Einkaufen dieser Tage nicht völlig selbstlos ist. Bei dem Tempo, mit dem sie Klamotten kauft, achte ich bei meiner Bewertung vor allem darauf, wie gut es mir stehen wird, wenn sie es in drei Monaten leid ist, um eine Illusion ärmer.


Während sie schon mal das Brot isst – mit Butter und Pfeffer – nimmt sie den Faden wieder auf. „Du willst also damit aufhören?“
Ich rühre nachdenklich in meiner Suppe.
„Nein, ich denke nicht. Aber es ist einfach nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Und außerdem, was soll ich denn sonst tun?“
„Mach doch selbst was.“
Ein Stück Brot fällt aus ihrem Mund und sie wischt es genauso lässig weg, wie sie diesen Vorschlag ausgesprochen hat.
„Ich kann nicht malen.“
„Mila, du weißt ganz genau, was ich meine. Es ist nicht wichtig, was du machst. Einfach irgendetwas. Tu was, denk dir was aus, erfind was. Die Zeit läuft.“
Ich rühre geistesabwesend in meiner Suppe. Wenn ich ihr nicht den Mund stopfe, fängt sie gleich wieder über das Nutzen von Talenten an. Ob ich wirklich etwas kann? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich meine Talente tief begraben habe, dort, wo sie nie verwettet, verzockt, beschädigt oder verspottet werden können. Ich weiß sie dort in Sicherheit, weit weg von den Blicken der Leute – und weit weg von mir selbst. Welcher Knecht war es wieder in der Parabel, der letztendlich seinen Herrn am meisten enttäuschte? Der, der seine Talente vergrub, oder der, der auszog, sie verlor und mit leeren Händen nach Hause kam?


Lisa versucht es. Sie schon. Mir war vor ihrem ersten Auftritt vor Anspannung ganz schlecht. Nägelkauend saß ich im Publikum, während sie versuchte, in dieser Dorfkneipe den Lärm zu übertönen, auf einer Bühne, die aus einer Klotür auf vier Bierkästen bestand. An der Bar Stammgäste, die ihr ostentativ den Rücken zuwandten, denn schließlich bestimmten sie hier, wer der Tollste war. Zufällig waren sie das selbst. Und trotzdem machte sie weiter, trat in den entlegensten Winkeln des Landes auf. Für Getränkegutscheine, matschige Brötchen und manchmal einen Teller Spaghetti spulte sie ihr Programm ab. Drei Stunden im Auto für einen Auftritt von zehn Minuten. Sie wurde und wurde nicht entdeckt. Ein weiteres Mal bekam sie das zweifelhafte Kompliment, sie habe Eier in der Hose. Das machte sie so wütend, dass sie während der ganzen Rückfahrt vor sich hin schäumte, und ich vor Lachen fast gegen eine Ampel fuhr. „Was ist das eigentlich für ein Scheißkommentar? Du hast echt Eier in der Hose, du bist fast ein echter Kerl, fast eine vollwertige Person. Nächstes Mal, wenn ein Mann das zu mir sagt, schneide ich ihm die Eier ab und stecke sie mir in die Hosentasche, bloß damit er recht behält.“


Bevor sie sich jetzt weiter über mein Los auslassen kann, werfe ich schnell eine Frage ein: „Wann ist denn dein nächster Auftritt?“
„Nächsten Samstag. Kommst du mit? Ich probier eine neue Nummer aus. Über meinen Freund.“
„Du hast doch gar keinen Freund!“
Sie grinst: „Das ist ein belangloses Detail. Als ob die anderen Comedians immer die Wahrheit sagten. Die stellen sich auf die Bühne und erzählen, was ihnen gerade auf dem Weg nach hier oder letzte Woche passiert ist. Oder was sie auf der Arbeit oder in ihrer Jugend erlebt haben. Das stimmt doch nie. Das ist bloß eine schlechte Überleitung, damit sie ihre Witzekiste aufzuklappen können.“
„Aber das ist doch nicht besonders originell. Die Hälfte der Männer steht doch da und erzählt, wie doof ihre Freundin ist, oder was sie wieder Blödes gesagt hat.“
Sie wischt mit einer Brotkruste den letzten Rest Suppe aus ihrem Teller. In der war genug Salz gewesen, um einen durchschnittlichen Kabeljau am Leben zu erhalten.
 „Ich werde dann ja auch nicht erzählen, wie blöd mein Freund ist. Denn gib doch zu, das ist ja auch wirklich total albern. Jedes Mal, wenn ich einen Typen rumheulen höre, wie dumm, oberflächlich oder frigide seine Freundin ist, denke ich nur: Dann mach halt Schluss, du Jammerlappen. Nein, ich werde über mich selbst reden. Und wie dumm ich mich manchmal anstelle. Im Bett und so.“ Sie nimmt den Löffel und streicht eine Locke hinters Ohr. Den Löffel hält sie wie ein Mikro vor den Mund. „Sex ist wie Fahrrad fahren. Man verlernt es nie so ganz und ich kann es immer noch nicht, ohne mich irgendwie dämlich anzustellen. Und wenn die Kette abfällt, muss man eben auch mal zupacken … Naja, bei dem Letzten bin ich mir noch nicht so sicher. Ist das witzig? Soll ich das machen? Was denkst du?“


Was ich denke? Dass sie das mutigste, liebste Mädchen auf der ganzen Welt ist und mich genauso oft zum Lachen bringt wie zu Tränen rührt. Und das sage ich ihr dann auch.