Carmien Michels - We zijn water

Der Leser folgt sieben Personen und erkennt mit der Zeit, in welcher Beziehung diese zueinander stehen.

Fabrizio, 89, Minenarbeiter aus Italien, ging einst nach Belgien, um dort mehr Geld zu verdienen. Er heiratete und bekam mit seiner Frau sechs Kinder. Ein Sohn starb in einem Autounfall, bei dem auch seine ruandische Lebensgefährtin ihr Kind verlor, wonach sie den Kontakt zur Familie ihres verstorbenen Freundes abbrach. Kurz darauf starb auch seine Fabrizios Frau. Zwei Jahre später lernte er seine neue Lebensgefährtin Marlène kennen. Als er mit ihr einen neuen Anzug für die zur Feier seines neunzigsten Geburtstags kaufen geht, lernt er seine Enkelin kennen, die in dem Geschäft arbeitet.

Elena, 14, erträumt sich ihren Traummann und schreibt seine Eigenschaften in ein Tagebuch. Eines Tages verliert sie es, doch es meldet sich ein Mann telefonisch, der behauptet, ihr Mann zu sein. Sie trifft ihn im Park. Er ist viel zu alt für sie. Nach einem kurzen Gespräch geht jeder seiner Wege. Elena verspricht jedoch, sich wieder zu melden. Als sie kurz darauf bei Sue ist, die sie mit dem Mann gesehen hat, warnt diese sie, dass Männer oft nur das eine wollten.

Clara hat sich von ihren Eltern abgewendet. Seit ihrem Auszug hat sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie, nur zu ihrem Großvater, mit dem sie sich immer gut verstanden hat, bis zu seinem Tod. Sie ist mit Sue liiert. In der vergangenen Woche wollte diese sie nicht sehen, weil sie ihren Großvater gerade kennengelernt hatte, doch nach einem kurzen Streit versöhnen sie sich wieder.

Maddy hat ihren Mann erstochen, der sie jahrelang betrogen und erniedrigt hatte. Danach hat sie kein Wort mehr gesprochen. Nach zehn Jahren ist sie verfrüht aus der Haft entlassen worden. Seitdem führt sie ein einsames Leben, an das sie sich allerdings gewöhnt hat. Als sie eines Tages im Park ausrutscht und sich den Fuß verstaucht, kommt ihr Sue zu Hilfe, die sie ab dann täglich besucht. Durch diese unerwartete menschliche Wärme nimmt Maddy erstmals ihre Einsamkeit wahr und wünscht sich nichts sehnlicher, als dass diese Besuche nie aufhören mögen. Zu ihrer eigenen Überraschung fängt sie wieder an zu sprechen.

Max hat eine Methode gefunden, wie er sich in eine Katze verwandeln kann. Bei einem Experiment mit dieser Technik während des Schwimmunterrichts ertrinkt er fast. Als er wieder zu Hause ist, bekommt er Besuch von Sue, der „braunen Nachbarin“, die er unbedingt hatte sprechen wollen, als man ihn ins Krankenhaus brachte. Er trägt ihr auf, sie dürfe nie mehr weinen.

Rolf, der in einer Möbelfabrik arbeitet, baut aus Holzresten nach den Plänen seines Vaters eine Arche, für den kurz bevorstehenden Fall einer Sintflut. Ihm fehlt auch noch eine Frau, die mit ihm auf seinem Schiff leben will.

Joseeeke steht schon seit dreißig Jahren hinterm Tresen und hat ein Herz für all ihre Gäste. Weil sie keinen Mann gefunden hat, hat sie das Pompadour übernommen, um ihre Liebe gleichmäßig auf ihre Gäste zu verteilen. Clara liegt ihr besonders am Herzen. Als diese ihr mitteilt, dass sie nach Amerika gehen wird, kann Joseeke sich nicht mit ihr freuen.

Fabrizio verabredet sich mit Sue zum gegenseitigen Kennenlernen in einem Café. Es stellt sich heraus, dass Sues Mutter ihr erzählt hat, ihr Vater habe sie verlassen, als er gesehen habe, dass sie ein Mädchen sei, während sie Fabrizio gegenüber bei der Beerdigung behauptet hatte, sie habe durch den Unfall das Kind verloren und könne es nicht ertragen, noch weiter Kontakt mit Marcos Familie zu haben.

Clara leidet darunter, dass Sue immer öfter bei Maddy ist. Sie fühlt sich vernachlässigt. Deshalb verabredet sie sich mit ihrer Exfreundin Andrea im Pompadour. Bevor sie geht, klingelt ein Mann an der Tür, der ihr einen Brief für Sue gibt, in dem er, Anton, sie bittet, ihn zu besuchen, bevor sein Leben beendet wird. Nach ihrem Besuch bei Anton teilt Sue Clara mit, dass sie die kommende Woche allein sein möchte und Clara woanders unterkommen solle. Wütend verlässt diese das Haus, um bei Andrea unterzuschlüpfen.

Rolf lernt im Pompadour Sue kennen und sieht in ihr sofort die Frau, die er mit auf seine Arche nehmen möchte. Doch noch bevor er Zeit hat, sich länger mit ihr zu unterhalten, kommt Clara zur Tür herein und die beiden verlassen zusammen die Kneipe. Trotz dieses Vorfalls verbringt er seine Abende nun im Pompadour in der Hoffnung, dass Sue wieder auftauchen möge und tatsächlich trifft er sie dort drei Tage später. Er geht lädt sie ein, sein Schiff zu besichtigen.

Fabrizio verbringt ein paar Tage mit Marlène an der See. Als er am Strand spazieren geht, bricht ein schweres Unwetter los. Auf dem Rückweg zum Hotel sieht Fabrizio einen Wal auf dem Strand liegen. Er geht zu ihm, um ihn zu streicheln. Wegen des Unwetters sitzen Clara und Andrea am Flughafen fest. Als ihr Flug annulliert wird, geht Clara auf, dass sie eigentlich lieber bei Sue bleiben möchte, doch diese schickt sie weg und geht zu Rolf, der gerade die Tiere auf seine Arche bringt.

Max glaubt felsenfest, dass es so viel regnet, weil die braune Nachbarin weint. Deshalb nutzt er eine kurze Regenpause, um ihr Haus in Brand zu stecken.

Beurteilung:
We zijn water ist Carmien Michels Debüt. Es handelt sich hierbei um einen kurzen experimentellen Roman – eigentlich eher eine komplexere Erzählung –, der sich als Ganzes erst am Ende erschließt. Er wird in kurzen Kapiteln von sieben Figuren jeweils aus Ich-Perspektive erzählt, die alle in einer Beziehung zueinander stehen, die dem Leser erst mit der Zeit deutlich wird. Alle stehen zudem in einer Beziehung zu einer achten Person, Sue, deren Geschichte am Ende am vollständigsten ist, obwohl sie sie nicht selbst erzählen durfte und auch keine der Figuren sie ausdrücklich oder zusammenhängend erzählt hat. Jedes Kapitel trägt immer nur ein kleines Detail bei. Dabei ist auch Sue nicht die Hauptfigur, denn eine Hauptfigur im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Im Gegenteil: im Nachhinein wundert der Leser sich, wie viel ihm über im Grunde für die Handlung unbedeutende Figuren erzählt wurde, nur um etwas Wissenswertes über Sue zu transportieren.

Der Roman hat einerseits etwas von einem Memoryspiel, andererseits von einem Puzzle und nur der allerkonzentrierteste Leser wird beim ersten Durchgang alle Verbindungen erfassen, ohne zurückblättern zu müssen, nicht zuletzt, weil die Autorin falsche Fährten legt und einiges ungeklärt lässt, wofür der Leser eine Auflösung erwartet. Ein abgeschlossener Handlungsstrang entsteht nicht, der Text bleibt fragmentarisch.

Erstaunlicherweise bekommt der Leser trotz der kurzen Sequenzen, in denen die jeweils erzählende Person nicht viel Zeit bekommt, etwas von sich selbst preiszugeben, einen sehr genauen Eindruck von allen Personen und würde gerne mehr über sie erfahren. Am Ende des Buches ist so gut wie alles in der Schwebe und der Leser bleibt mit vielen offenen Fragen zurück. Genau das macht den Reiz dieses sehr lesenswerten Romans aus.

Die Autorin:
Carmien Michels (*1990) ist eine belgische Schriftstellerin und sehr erfolgreiche Slam-Poetry-Künstlerin. Sie studierte angewandte Sprachkunst am Königlichen Konservatorium Antwerpen. Ihr erster Roman, We zijn water, erschien 2013 bei De Bezige Bij. Er stand auf der Shortlist für den Debuutprijs und die Bronzen Boekenuil. 2015 erschien ihr ihr zweiter Roman, Vraag het aan de bliksem, eine Coming-of-Age-Geschichte.