Roxane van Iperen - Schuim der Aarde

1

Die Stadt

Die Menschenmassen machen ihr Angst. Aus den umliegenden Straßen und Gassen strömen Studenten auf den Platz vor der Kathedrale, dort schließen sie sich den Demonstranten an und kreisen mit ihnen zusammen im Schritttempo bedrohlich um das Standbild des Generals. Sie muss sich jetzt entscheiden, bevor der Strom sie mitreißt. Sie legt die Hände schützend auf den Bauch und sieht sich um. Um sich am Rand um den Platz zu schieben, ist nicht mehr genug Platz. Alle Gehwege, alle Straßencafés, jede einzelne Bodenplatte ist gerammelt voll. Sie will sich umdrehen und wird fast von einem Jungen mit halblangem Haar und einem Schild in der Hand umgerannt. Er sieht ihren Bauch und erschrickt, weicht zurück und versucht, dem Ansturm hinter sich zu trotzen. Entschuldigend hebt er die Hände und wird mitgerissen, auf den Platz, in den Strudel. Er dreht sich um und versucht ihr deutlich zu machen, dass sie sich einfach treiben lassen soll – mit den Fingern macht er in der Luft Beine nach. Dann dreht er sich wieder um und verschwindet in der Menge. Wäre sie im Dienst, würde sie sich in ihrer Respekt einflößenden Uniform sicher fühlen. Jetzt ist sie zwischen diesen Tausenden Jugendlichen einfach nur verletzlich. Dabei ist Anonymität genau das, was sie an einem Tag wie heute braucht. Elizabeth schließt die Augen, lehnt sich ein wenig nach hinten und lässt sich treiben.

 

Ausgerechnet heute. Ein normaler Werktag, hatte sie gedacht, als sie sich verabredet hatten. Doch je näher der Termin rückte, desto stärker fing ihr Körper an zu rebellieren. Sie spürte einen Knoten im Oberbauch direkt unter der Brust, an dem sie ihren Atem vorbeischieben musste. Sie hatte einen Kloß im Hals und der ließ sich nicht einfach hinunterschlucken. Ihre Kniegelenke kamen ihr immer lockerer vor – wie lose Muttern eines alten Karrens, eine letzte Warnung, keinen Meter weiter zu fahren. Und oben auf diesem mickrigen Körper diese runde, glatte Kugel. Die Kugel machte sie zu etwas Besonderem. Die Kugel hatte ihr in den vergangenen Monaten den Respekt ihrer Kollegen eingebracht, die Blicke der Passanten, aber vor allem: Hugos ehrfürchtige Scheu. Zuerst schien er ihr erstaunt, dann war er aufgeregt und jetzt – genauso wie seine ganze Familie – einfach nur dankbar. Ein Nachkomme! Er, ja seine ganze Familie, die Familie Dos Santos, wartet schon so lange auf ihren Kronprinzen. Einen kleinen Hugo. Schäumend vor Wut hatte er ihr noch vor ein paar Wochen von den Praktiken einer illegalen Abtreibungsklinik erzählt, die sein Team ausgehoben hatte. Auf die Spur gebracht hat sie der in Stücke geschnittene Frauenkörper in einem ausgebrannten Auto. Die Finger und Zähne der Frau waren entfernt worden, trotzdem hatte Hugo innerhalb von vierundzwanzig Stunden den Kopf der Bande ausfindig gemacht und dieser führte ihn zu der Klinik im Untergrund. Die Frau war an den Komplikationen einer Abtreibung gestorben, ein ehemaliger Automechaniker hatte sie mithilfe einer Hebamme vorgenommen. Oder zumindest waren die Komplikationen der Anlass gewesen, die Frau zu ermorden – aus Angst, entdeckt zu werden. Denn die Strafe wäre fürchterlich: Es gibt in diesem Land kein schlimmeres Verbrechen als das am ungeborenen Kind. In den vergangenen Jahren hatte sie, wenn der Pfarrer und die anderen Kirchgänger mitleidig ihren flachen Bauch ansahen, daran gedacht, das Gebet mit „Im Namen der heiligen Frucht“ zu beenden. Eine Frau ist erst vollwertig, wenn sie geworfen hat.


Im Schritttempo bewegt sie sich im Strom auf den Platz zu, auf dem die demonstrierenden Studenten einen Kreis formen. Sie versucht so zu gehen, wie sie es sich in den vergangenen Wochen angewöhnt hat: Hohlkreuz, Bauch raus, beide Hände drauf. Doch in dem Gedränge achtet keiner darauf; ihre Sonderstellung als Schwangere hilft ihr nicht. Panik steigt in ihr auf. Hätte sie bloß eine andere Strecke gewählt! Aber alle Straßen rund um den Platz sind verstopft und sie muss unbedingt auf die andere Seite der Stadt! Ob das ein Zeichen ist? Eine letzte Warnung? Sie denkt an Hugo, wie er sie in den letzten Monaten ansieht. Wie er sanft ihre Hand nimmt, ihr über den Kopf streicht und ansonsten aus Respekt vor ihrem Zustand Abstand hält. Er ist wieder befördert worden und ist jetzt zuständig für das gesamte Stadtzentrum. Sie stellt sich vor, wie er gerade im Büro sitzt und sich zusammen mit den Bezirksleitern über einen Stadtplan beugt, während er sich überlegt, wie sie die Sache am besten anpacken sollten. Seit der Wiederwahl von O Presidente blüht die Wirtschaft wie nie zuvor, aber Dissidenten streuen Sand ins Getriebe. So wie diese Studenten. Comunistas, wie sie Hugo spöttisch nennt. Wie lange wird er diese Demonstration noch tolerieren? Eine Stunde? Zwei? Er wird bis spät abends beschäftigt sein. Vielleicht kommt er nicht einmal nach Hause, er glaubt sie bei seiner Mutter in Sicherheit. Wenn er doch nach Hause kommt, wird er, bevor er zu Bett geht, noch einen Blick ins Kinderzimmer werfen, in dem seine alte Wiege auf seinen Sohn wartet. Dass es auch eine Tochter werden könnte, zieht er nicht einmal in Betracht. Elizabeth streckt die Finger ihrer rechten Hand und betrachtet den in der Sonne funkelnden Stein an ihrem Ring. Zusammen haben sie alles, außer das eine. Sie kann nicht mit leeren Händen nach Hause kommen.


Die Statue des Generals kommt näher, das Menschenkarussell dreht sich im Uhrzeigersinn um ihn herum. Nur noch wenige Meter, dann wird sie darin aufgenommen, dann muss es ihr gelingen, nach einer dreiviertel Runde wieder auszusteigen und Richtung Norden zu gehen. Sie muss ja lediglich dafür sorgen, auf den Beinen zu bleiben. Dazu muss sie den einen Fuß vor den anderen setzen. Schweiß läuft ihr den Rücken hinunter, das Kleid klebt an ihr. Die Gasse, aus der sie kommt, liegt im Schatten hoher Gebäude, doch der Platz leuchtet in der Sonne wie eine Zielscheibe aus Stahl. Noch zwei Meter. Sie rückt den Bauch unter ihrem Blümchenkleid zurecht und ballt die Fäuste. Weitergehen, einfach weitergehen. Es führt kein Weg zurück.

 

Elizabet kneift die Augen zusammen gegen das grelle Sonnenlicht. Die Masse saugt sie ein und sie schwimmt mit Tausenden Menschen in dieselbe Richtung. Hände, Arme, Schultern fließen ineinander, Anfang und Ende sind nicht in Sicht. Wie eine dickflüssige, brodelnde Bohnensuppe bewegen sie sich fort, von einer unsichtbaren Suppenkelle gerührt. Sie sieht geschwollene Adern an den Hälsen neben sich, die Menschen verleihen ihren Forderungen Nachdruck, stoßen die Fäuste rhythmisch in die Luft. Ihre Worte gehen in dem Höllenlärm unter, der über dem Platz hängt.


Langsam bewegt sich die Menschenmasse fort und Elizabet setzt einen Fuß vor den anderen. Sie muss sich auf die Situation einlassen, sonst wird sie in Panik geraten. Sie denkt an den Unterricht an der Polizeiakademie. Atmen. Keinen Widerstand leisten. Sie ist schon zur Hälfte um den Platz herum, sieht das Straßenschild der Gasse, in die sie einbiegen muss. Eine Wellenbewegung der Menge bringt sie fast zu Fall, Männer, die einen Kopf größer sind als sie, werden gegen sie gedrückt. Ihr Bauch verrutscht unter ihrem Kleid. Schnell schiebt sie ihn wieder zurecht, legt die Arme schützend auf ihn und sieht nach oben in den hellen Himmel. Atmen.


Sie bohrt die Schuhe fest in den Steinboden und lässt sich nicht mehr mitziehen. Sie marschiert. Überall nach Luft schnappende Fischmäuler. Ein dunkler Ozean, dessen Wellen in alle Richtungen schwappen, in Gassen und Straßen hinein, sie überfluten immer mehr Bodenplatten, bis die ganze Stadt überspült ist. Eine Naturgewalt, die niemand aufhalten kann. Und irgendwo mittendrin dümpelt sie wie eine rote Boje, der die Gezeiten nichts anhaben können. Die Boje treibt noch ein bisschen mit der Strömung mit und biegt dann ab, bewegt sich der Masse entgegen, durch ein unsichtbares Tau mit dem Schicksal verbunden, das an einem anderen Ort in der Stadt verankert liegt, einem Ort, den niemand kennt außer ihr. Am Ende dieses Taus liegt ihre Zukunft. Ihrer beider Zukunft. Sie muss sie nur abholen.

*

Lucy mustert sich im Spiegel. Der blinde Fleck, der sich von der oberen Ecke aus über die Oberfläche ausbreitet, nimmt ihr teils die Sicht. Sie hat Lust auf heute Abend. Lust auszugehen, zu tanzen, sich mit ihren Freundinnen zu betrinken. Vielleicht auch schon ein bisschen Geld zu verdienen.


Sie betrachtet ihre geschwollen Brüste, dünne Adern scheinen durch die Haut hindurch. Noch vor einem halben Jahr war ihre Brust so platt wie die eines Jungen. Sie stützt die Hände in die Hüften und dreht sich ein wenig zur Seite. Wie oft hat sie in letzter Zeit so dagestanden, um sich anzusehen? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendwann wieder gut würde, doch als sie heute Morgen wach wurde, platt auf dem Bauch, fühlte sie sich fast so wie früher.


In den ersten Monaten hatte sie nichts gemerkt. Keine Veränderung, keine Beschwerden, sie hatte auf nichts Rücksicht genommen. Erst in den letzten zwei Monaten veränderte sich ihr Körper jeden Tag, schließlich fast stündlich. Das Ding in ihr übernahm das Kommando. Jeden Morgen, wenn sie wachwurde, sprang sie aus dem Bett und stellte sich vor den Spiegel, um zu sehen, was über Nacht passiert war. Ihr spindeldürrer Kinderkörper mit den geraden Hüften und eckigen Schultern begann sich zu wölben. Sie konnte nichts dagegen tun, dass ihr Hintern immer mehr nach hinten stand und sie ein Hohlkreuz bekam. Ihre Arme standen jetzt etwas weiter weg vom Körper, ihr Brustkorb drängte nach vorne. Und dann dieser Bauch. Sie traute sich gar nicht, ihn zu berühren. Auf einmal standen auch andere Freier vor ihrer Tür. Stammkunden blieben weg, die neuen betrachteten sie von Kopf bis Fuß, bevor sie sich an ihr vergriffen. Fragten sie, wann es denn so weit sei und ob sie davor noch mal wiederkommen dürften. Lucy war das recht, so hatte sie zumindest auch etwas davon. In den vergangenen Wochen hatten sie ihr die Bude eingerannt, sie war völlig erschöpft. Jedes Mal, wenn sie kurz mit den anderen Mädchen an der Straße gesessen hatte, um sich auszuruhen, mit geöffneten Beinen, um ihrem Bauch Raum zu geben, hatte wieder jemand den Kopf um die Ecke gesteckt. Dann hatten die Mädels gelacht und auf Lucy gezeigt.
„Da ist sie!“
Seufzend war sie mit dem Freier im Schlepptau in ihrem Zimmer verschwunden. Sie war froh, dass das vorbei war.
Lucy wendet sich vom Spiegel ab. Das wird schon wieder; es ist schließlich erst einen Tag her. Sie geht zum Bett, das fast den ganzen Raum ausfüllt, und streichelt das Kleid, das sie darauf schon zurechtgelegt hat. Ihr schönstes. Die Pailletten fühlen sich an wie Schuppen. Sie hebt die rosa Unterhose mit der Comicfigur vom Boden auf und zieht sie an. Mit gestreckten Zehen steigt sie in das Kleid und streift sich die Spaghettiträger über die Schultern. Zwei silberne Kreolen ins Ohr, Sandalen an, fertig.
Sie hämmert mit der Faust an die dünne Wand. Das Dach bebt.
„Ich bin dann weg!“
Erst hört sie nichts. Dann die hohe Stimme von Angelica.
„Bis nachher! Pass auf dich auf in der Stadt! Soll ich echt nicht mitkommen?“
Es klingt, als stehe sie direkt neben ihr. Lucy sieht regelrecht vor sich, wie sich Angelica auf der anderen Seite der Wand gerade schminkt.
„Nicht nötig. Ich verspreche, ich bin schnell wieder zurück. Bis gleich!“


Sie schnappt sich das in ein Tuch eingewickelte kleine Paket auf ihrem Bett, steckt es in die Jutetasche und geht aus dem Haus. Am Ende der schmalen Gasse trippelt sie die Treppe hinab, die zu dem steilen Weg bergab führt. Geschickt weicht Lucy den überstehenden Wellblechplatten und den Abwasserpfützen aus. Wie leicht ihr das fällt! Sie fühlt sich buchstäblich um eine Person leichter. Sie macht große Schritte, tänzelt fast vor Erleichterung, aber geht sehr behutsam mit der Tasche in ihrer Hand um. Sie hat sie von der Frau bekommen und hofft, sie behalten zu dürfen. Noch nie hat sie so eine schöne Tasche gehabt: Die Jutetasche ist genauso rot wie die Holzgriffe.


Hier stehen weniger Häuser, hier muss sie aufpassen. Sie läuft einen steilen, glatten Pfad entlang, der aus dem Fels gehauen ist, an einigen Stellen gibt es Stufen. Entlang des Pfades wuchern wilde Pflanzen, peitschende Zweige greifen nach ihr. Ein Sprung und sie ist wieder auf einem sandigen Stück voller Häuschen. Sie winkt einer Bekannten zu und stolpert fast über einen Hund. Der läuft beleidigt jaulend davon. In der Ferne leuchtet die See auf, davor der Streifen Strand – Puffer gegen die näher rückende Stadt, die aussieht, als habe ein Kind seine Bauklotzkiste umgeworfen. Kurz hält sie inne, um den Ausblick zu genießen, aus dieser Höhe ist er wunderschön.


Nach fast einer Stunde hat sie den Berg hinter sich gelassen und besser begehbare Wege erreicht. Lange, hügelige Straßen mit Häusern, Geschäften und Schulen in gutem Zustand. Sie kommt an einer Kirche vorbei, einem Park mit Eisenzaun und Bänken, auf denen alte Männer sitzen und Schach spielen. Das vertraute Gewimmel am Berg macht nun Touristen mit großen Fotoapparaten Platz. Wie Außerirdische kommen sie, um ihre Stadt besichtigen. Sie bewegen sich in einem ganz anderen Rhythmus als sie, als seien ihre Silhouetten mit einem feuchten Daumen verwischt worden. Langsam. Nein, verlangsamt. Eigentlich ist sie hier genauso fremd wie sie. Sie verlässt den Berg nur selten.


Lucy geht langsamer, um weniger aufzufallen. Ihre Sandalen klappern auf dem Pflaster. Am Straßenende sieht sie schon den Platz mit dem Drachenspringbrunnen. Mit jedem Schritt wird ein wenig von dem Becken mehr sichtbar, bis sie schließlich davorsteht. Das Wasser klatscht auf die Wasseroberfläche und versprüht feinen Nebel. Sie lässt ihn auf sich nieder rieseln, gähnt und sieht sich um. Es ist viel los. Perfekt. Am Beckenrand sitzen Leute. Paare. Eine alte Frau mit Socken in Sandalen stützt sich auf ihren Gehstock. Freundinnen mit Tütchen voller Süßigkeiten vom Kiosk. Ein kleines Kind spritzt seine Mutter nass. Diese juchzt auf, doch der Laut geht im Plätschern des Wassers unter, das aus dem Maul des Drachens fließt. Zwischen seinen Kiefern steckt ein Schlauch.
Lucy setzt sich auch an den Beckenrand und stellt die Tasche in den Schatten unter ihren Beinen. Die Sonne, die ihr den ganzen Weg den Berg hinab den Rücken gewärmt hat, scheint ihr jetzt voll ins Gesicht. Sie fühlt, wie ihre Wangen und ihr Oberkörper zu glühen beginnen, kühle Wassertropfen spritzen ihr in den Nacken. Mit geschlossenen Augen denkt sie an den heutigen Abend, an dem sie alle Erinnerungen an die vergangenen Monate wegspülen wird. Ein Reinigungsritual, wie Angelica es nennt.


Sie blickt verstohlen in die Straßen hinein, die in den Platz münden. Menschen gehen aneinander vorbei, in Gassen hinein und aus ihnen heraus, überqueren den Platz. Es ist ein anderer Menschenschlag. Menschen vom Berg erkennt sie unter Tausenden. Sie haben eine andere Haut, grauer und dunkler, und sehen einen an, als könnten sie einen jeden Moment angreifen. Außer die Arbeiter natürlich, die starren auf den Boden. Bei ihnen sieht man es an den Händen: die Haut ist trocken und rissig und die Nagelhaut löst sich ab. Die Frauen vom Berg haben einen enormen Vaselineverbrauch: Überall sieht man sie abends sich die Hände eincremen. In einer Ecke des Platzes hat sich vor einem schicken Eissalon eine Schlange gebildet. Ockergelbe Markisen halten die Eisbehälter im Schatten. Lucy beschließt, sich ein Eis zu gönnen, wenn das hier vorbei ist.


Da taucht sie aus einer der Straßen auf. Das schmale Gesicht mit den Furchen um die Mundwinkel, ein Merkmal des Lebens zwischen den Welten, wo die Schwerkraft stärker an den Menschen zerrt. Gelbes Haar mit Mittelscheitel und herausgewachsenem, schwarzem Haaransatz. Sie sieht mürrisch zu den Menschen am Springbrunnen herüber. Ihr Blick klart auf, als sie Lucy erblickt. Die Frau fühlt sich sichtlich auch nicht wohl hier. Nach einer kurzen Umarmung setzen sie sich Schulter an Schulter an den Beckenrand. Die Frau blickt in die Ferne und beginnt zu sprechen.
„Tut mir leid, dass ich so spät dran bin. Es ist schon die ganze Woche die Hölle los in der Stadt. Das ganze Zentrum ist abgeriegelt. Diese Studenten, idiotas!“
Maria spuckt das letzte Wort aus, schnauft und sieht sich auf dem Platz um, als könnten sie hier jederzeit erscheinen. Dann legt sie eine Hand auf Lucys nacktes Bein.
„Wie fühlst du dich?“
Das plätschernde Wasser bildet einen Kokon um sie herum, in dem sie frei sprechen können.
„Gut.“ Lucy meint das ernst. Sie hat sich schon lange nicht mehr so gut gefühlt. „Ich habe zum ersten Mal seit Wochen wieder richtig gut geschlafen. So, platt auf dem Bauch. Nicht ein einziges Mal bin ich wach geworden.“
Maria zieht die Augenbrauen hoch, oder was von ihnen übrig ist. Sie sind bis auf zwei schmale Bögen fast völlig wegepiliert. Waagrechte Falten schieben ihre Stirnhaut nach oben. Lucy sieht fasziniert zu.
„Bist du sicher?“, fasst Maria noch einmal nach. Sie fährt flüsternd fort. „Bauchschmerzen, Nachblutungen?“
Lucy zuckt mit den Schultern und schüttelt den Kopf.
„Ich habe doch diese Binden von Ihnen. Und, na ja, gut sitzen tue ich nicht gerade.“ Lucy kichert freudlos, aber Maria bleibt ernst. Wie ein Habicht hat sie die Umgebung im Blick. Trotz des Sonnenlichts blinzelt sie nicht. Lucy lehnt sich zurück und sieht hinter der Frau vorbei zum Eissalon hinüber. Die Schlange wird kürzer.
„Und das Kind?“
Maria tut so, als sehe sie zu einer Blumenverkäuferin an der Ecke des Platzes hinüber. Die Mutter mit dem Kleinkind hat die Nase voll und will gehen. Das Kind stemmt die Füße in den Boden und beginnt zu brüllen. Ungerührt packt die Frau es am Oberarm und überquert den Platz. Ihr Sohn strampelt in der Luft, ohne den Boden zu berühren. Lucy beugt sich über die Tasche zwischen ihren Beinen.
„Hier.“
Die Frau nimmt die Tasche und sieht hinein.
„Hat es noch Geräusche von sich gegeben?“
Maria versucht zu sprechen, ohne die Lippen zu bewegen, das gelingt ihr aber nicht. Lucy unterdrückt ein Lachen.
„Nee“, antwortet sie. „Ich habe ihm die Kräuter auf den Mund gedrückt, wie Sie gesagt haben. Da war er gleich wieder ruhig. Ich habe ihn jedenfalls die ganze Nacht nicht gehört.“
„Hm“, murmelt Maria zustimmend. „Möchtest du wissen, wo ich ihn hinbringe?“


Sie wendet sich Lucy zu und sieht das Mädchen unverwandt an. Lucy denkt nach. Sie hätte eine andere Lösung wählen können. Ein Kissen aufs Gesicht, ihn irgendwo aussetzen oder in den Schnellkochtopf. Die richtig abgebrühten Mädels warten ab, bis der Kopf rauskommt und setzen sich dann drauf, sodass das Genick bricht. Die größten Idiotinnen sind die, die es behalten. Die Mädels in der Gasse können das Geheul und Gequengel, das sie an ihre eigenen Entscheidungen erinnert, beim besten Willen nicht gebrauchen. Außerdem schreckt es die Freier ab. Während der Arbeitszeit, wenn die Mädels ihr Zimmer brauchen, wird das Kind unters Bett gelegt oder hinter einem Vorhang versteckt, bis es zu groß oder zu temperamentvoll wird. Dann steht ihm ein Leben auf der Straße bevor oder es darf in die Fußstapfen seiner Mutter treten. Wie sie.


Nein, so ist es am besten. Sie war neugierig, ob es ihr ähnlich sehen würde und das war der Fall: dieselben feinen Gesichtszüge, der helle Teint und die grünen Augen. Es würde sicher ein gutes Zuhause bekommen. Sie vertraute Maria, wie jeder am Berg. Ein anderes Mädchen in ihrer Gasse hatte zu Beginn des Monats ein Baby bekommen. Lucy hatte es sich angesehen: ein Affe mit einem Wust dunkler Haare und dunklen Augen, wie sie hier am laufenden Band produziert werden. Die dumme Kuh hatte vor, ihn zu behalten.
„Ich brauche es nicht zu wissen“, sagt Lucy und steht auf. Wenige Meter weiter versucht die alte Dame mit den Socken, dasselbe zu tun. Sie stützt sich schwer auf ihren Stock, kommt aber nicht hoch. Eine Schulklasse kommt aus einer der Gassen, Gelächter füllt den Platz. Auf einmal ist viel los.
Sie umarmt Maria kurz, aber fest.
„Você é um anjo.“
Kaum hörbar flüstert sie die Worte ins Ohr der älteren Frau, ihre Oberlippe streift das trockene, kaputtblondierte Haar.
Sie wartet, bis Maria die Tasche genommen und lautlos in einer der Gassen verschwunden ist. Schade um die Tasche. Lucy schmatzt mit den Lippen, sie hat einen schalen Geschmack im Mund. Schokoladeneis. Es würde sie einen halben Abend Arbeit kosten, aber sie fand, das hat sie sich verdient.


Zum ersten Mal seit Monaten fühlt sie sich wieder leicht, geht zu der Theke hinüber, in der Dutzende Eissorten auf Touristen warten. Die Ohrringe tänzeln gegen ihren Hals. Noch einmal sieht sie sich nach der Gasse um, in der Maria mit dem Päckchen verschwunden ist.


Lucy streicht die Pailletten auf ihrem Kleid glatt und setzt ihren verführerischsten Blick auf. Der Junge hinter dem Tresen sieht sofort zu ihr hinüber. Ohne auf die Leute zu achten, die vor ihr stehen, zeigt sie auf die dunkelbraune Eisschale und sagt laut: „Zwei Kugeln, bitte.“
Der Abend kann kommen. 

 


2

Der Sertão

Meine Füße stecken in einem Feld voller Disteln fest – sie stechen mich in die Fußgelenke, ich komme nicht voran. Reflexhaft schlage ich mir auf die Beine. Ich mache die Augen auf und sehe das Ende einer Ameisenkolonne davonstieben. Eine tote Ameise klebt an meiner Handfläche. Vorsichtig löse ich meine Gliedmaßen von den anderen Kindern und die anderen Körper schließen die Lücke. Das Treppenhaus ist dunkel, aber ich würde den Weg nach unten auch blind finden. Meine Fingerspitzen gleiten über die Betonwand. Langsam hebe ich den Türriegel, drücke ihn nach oben und nach links, Präzisionsarbeit, damit er nicht quietscht. Ich spüre die Sonnenstrahlen auf meiner Haut und die Haare auf meinen Armen stellen sich auf. Der Tag hat begonnen.


Auf dem Hof beginne ich mit meiner allmorgendlichen Routine. Ich habe eine Stunde Zeit, bevor die anderen wach werden. Ich gebe den Hühnern ein wenig Mais, gerade genug, damit sie weiter Eier legen. Dann gehe ich mit zwei leeren Eimern zum Brunnen. Ich knie mich hin und lasse das Tau herab, vorsichtig, damit ich nicht vornüberkippe. Die kleine Mauer bröckelt. Mit den vollen Eimern schlurfe ich zurück zum Hof und fülle die Wassertröge der Schweine. Als sie mich sehen, kommen sie angelaufen und stupsen mich mit ihrer Schnauze in die Waden. Ich kraule sie hinter den Ohren, habe aber keine Zeit stehen zu bleiben. Wenn ich mich strikt an mein Programm halte, habe ich am Ende ein paar Minuten für mich selbst, bevor der Rest runterkommt. Ich kontrolliere den Topf über dem Feuer und die Zinnteller. Gestern Abend habe ich alles abgewaschen, aber man weiß ja nie. Ich nehme sie alle kurz in die Hand, knibbele ein angetrocknetes Reiskorn ab. Mit meinem Reisigbesen fege ich den Sand vor der Scheune in langen, geraden Streifen, unterwegs sammle ich Bierdosen und Zigarettenstummel auf. Schweiß läuft mir über die Stirn in die Augen, ohne anzuhalten blinzle ich ihn weg. Mit festem Strich ziehe ich den Besen über den Boden, denke mir im selben Rhythmus eine leichte, kühle Brise dazu. Nach einer Weile sieht der Hof wieder ordentlich aus; nichts erinnert mehr an gestern.