Die Grenze zwischen dem Wiedererkennbaren und dem Wahnsinn

Eins vorweg: Ich bin eigentlich ein Franzen-Fan. Ich mag seine dysfunktionalen Familien und ihre Irrungen und Wirrungen, das Ringen der Figuren mit sich selbst, das Hadern mit ihrem Schicksal und ihren Beziehungen. Ich mag seinen ausschweifenden, detaillierten Erzählstil und die Liebe und Präzision, mit der er seine Figuren beschreibt. Und doch konnte ich mit Purity nicht gar so viel anfangen.

Bei einer Lesung im Oktober diesen Jahres stellte eine Zuhörerin aus dem Publikum Franzen die Frage, wie er die Grenze zwischen dem Wiedererkennbaren und dem Wahnsinnigen ziehe ("How do you draw the line between the recognizable and the insane?"). Franzen blieb ihr hierauf eine befriedigende Antwort schuldig, obwohl ihm die Frage sehr gefiel. Dabei wäre eine Antwort hierauf wirklich besonders interessant gewesen, hatte man doch schon in allen vorangegangen Romanen als Leser das Gefühl, Franzen interessiere sich insbesondere für diese Gratwanderung.

 

In "Purity" (in der deutschen Übersetzung "Unschuld) hebt er sie nun aufs nächste Level. Hier steht nicht mehr die Betrachtung einer Familie oder Beziehung zentral und die Handlung findet an vielen verschiedenen, weit auseinanderliegenden Schauplätzen statt. Zwar laufen die Fäden früher oder später zusammen, aber sie kreuzen sich lediglich, ohne verwoben zu werden.

Purity (Pip) Tyler ist die Figur, die sie alle verbindet. Aufgewachsen in Armut in einer Blockhütte am Ende der Welt, rackert sie sich in mehreren schlecht bezahlten Jobs ab, um ihren Studentenkredit abzubezahlen, nicht wissend, dass ihre Mutter, die selbst vor ihre Tochter ihre wahre Identität geheimhält, die Milliardenerbin eines Fleischimperiums ist. Purity wohnt mit mehreren mehr oder weniger gescheiterten Existenzen in einem besetzten Haus und phantasiert in ihrer Freizeit zum einen über eine Beziehung zu dem verheirateten Mann, der ebenfalls dort wohnt, zum anderen darüber, wer wohl ihr Vater sein könnte, denn auch dessen Identität hat ihre Mutter ihr verschwiegen. Weil sie sowieso gerade nichts besseres zu tun hat, lässt sie sich von Annagret für ein Praktikum bei Andreas Wolf erwärmen, einem weltbekannten Wistleblower, der von seiner Zentrale in Bolivien aus sein eigenes Weltüberwachungssystem aufgebaut hat. Er findet auch heraus, wer Pips Vater ist und schickt sie, ohne sie einzuweihen, als Praktikantin zu ihm. In der Folge fallen alle Puzzlestückchen elegant und mühelos auf ihren Platz. Nachdem diese existenziellen Rätsel gelöst sind, beginnt in Pips Leben ein neuer Abschnitt.

Erstaunlich daran ist vor allem, dass Purity im Grunde die in jeder Hinsicht unbedeutendste Figur ist, allein schon, weil sie die jüngste ist und in ihrem Leben noch nicht viel erreicht hat, aber auch, weil sie unbefangen und naiv durchs Leben geht und dabei nur ein vages Ziel vor Augen hat. Ihr Schicksal erschließt sich aus dem Geflecht der verschiedenen Handlungsstränge, die auch aus verschiedenen Perspektiven erzählt werden, quasi nebenher, während die anderen Figuren entwickelt werden.

 

So gilt ein umfangreicher Handlungsstrang der Figur des Andreas Wolf, der in der DDR aufgewachsen ist und sich vom Kind einflussreicher Eltern zum Dissidenten entwickelt, der im Keller eines Gemeindezentrum haust und dort wahlweise Jugendliche betreut oder Mädchen vernascht. Diesem Dasein setzt die Begegnung mit Annagret ein Ende, für die er zum Mörder wird, wodurch sein Leben eine radikale Wendung erfährt.

 

Anschließend lernen wir Leila Helou kennen, Journalistin, verheiratet mit Charles, den sie nicht verlassen will, weil sie sich dafür verantwortlich fühlt, dass er im Suff mit dem Auto verunglückt ist und seitdem im Rollstuhl sitzt. Sie wohnt zeitweise bei ihm und zeitweise bei Tom Aberant, ihrem neuen Lebensgefährten.

 

Ein weiterer Abschnitt wird von Tom aus der Ich-Perspektive erzählt und handelt ausführlich von Toms seiner Beziehung zu der völlig neurotischen Anabel, Puritys Mutter, mit der er jahrelang verheiratet war, deren Eltern - ihr Vater gab Tom einst das Geld, um seinen Zeitungsverlag zu gründen - und seiner im Keim erstickten Freundschaft zu Andreas Wolf. Tom hatte ihn, kurz nachdem sie sich in Berlin kennengelernt hatten und Andreas ihm den Mord gebeichtet hatte, ohne Erklärung am folgenden Tag versetzt und sich nie mehr bei ihm gemeldet. Wolf fühlte sich verraten.

Neben diesen Hauptfiguren kreuzen viele, viele weitere Figuren den Weg des Lesers, jede vom Autor liebevoll mit Eigenschaften versehen. Jeder einzelne Teil des Buchs ist faszinierend geschrieben und könnte auch für sich alleine stehen. Als Ganzes jedoch verfestigt sich im Laufe des Lesens immer mehr das Gefühl, nicht zu verstehen, wo die Reise hingeht. Vielleicht ist alles nur eine Reihung von Momentaufnahmen?

 

Hinzu kommt, dass die Grenze zwischen dem Wiedererkennbaren und dem Wahnsinn doch ein paar Mal zu oft überschritten wird. Charaktere wie Andreas Wolf, dessen Paranoia ihn am Ende das Leben kostet, oder Anabel, deren neurotische Pingpongdialoge mit Tom über nichts wirklich kaum noch nachvollziehbar sind, oder auch Wolfs Mutter Katya, oder, oder, oder, machen das Buch zu einem Sammelsurium an kuriosen Persönlichkeiten, wie sie selten geballt in einem Werk, geschweige denn in der Wirklichkeit auftreten. Für meinen Geschmack waren es allerdings zu viele.