Ich bin Übersetzerin des nationalen Dichters 2021/2022 Carl Norac. Im Laufe seiner Amtszeit hat er die folgenden Gedichte verfasst:
Und jetzt, schau, schaffe ich es nicht mehr
aus dem Graben. Sein Rand ist steil, rutschig.
Verflucht seien die, die ihn gegraben haben.
Meine Geduld ist bald am Ende.
(Wladimir Wyssotski)
Wann immer jemand eine Bühne betritt, ist da dieser Vorhang.
Dieser Vorhang, der einen umwirft, zu Fall bringt.
Sein Stoff ein mächtiger, ranziger Samt,
mancherorts geflochtene Fäden, eher Maulkorb als Spitze,
mit klingenden Schellen durchwoben, schrill wie
die Stimmen der Narren oder das Lachen der Lobbyisten.
Der Mann versucht aufzustehen, eine Frau reicht ihm die Hand.
Der Augenblick erhebt sich mit ihnen.
Sie gehen aufeinander ein und tanzen sogar neben den Gräben.
Doch dieser Vorhang schlägt erneut zu, metallisch,
erlegt sein Schlingern auf, schlägt zu statt einer vorgeschützten Welle.
Die Zuschauer verstehen nicht, warum sie,
obwohl ihr Mund bedeckt ist, den Saal verlassen müssen,
während anderswo wie zum Hohn erschallt:
«Hustet in den Kneipen, auf den Märkten, liebe Leute.
Der Glühwein fließt in Strömen. Wir sind nicht die Dummen heute!»
Immer noch und immer wieder stehen die Frau und der Mann auf,
vor diesem Vorhang, den sie jetzt zerreißen müssen,
den Bildschirmen, den Plätzen entreißen.
Jetzt, wo wir zu Unrecht Ziele sind,
bleibt keine Zeit, Freundinnen und Freunde,
die Sterne wieder anzuzünden
oder sich über die Sitzenden zu unterhalten.
Einzig drängt der Moment
des großen Ungehorsams.
Mitteilung an alle Pendler
Das Anderswo beginnt nicht mehr an Ihrer Schwelle.
Das Wort »Weg« selbst weicht vor Ihnen zurück.
Das Gold der Zeit liegt immer auf dem Bahnsteig der anderen.
Sie steigen in den Zug wie jeden Morgen
und öffnen die Hände, erblicken dort den Hauch eines Zweifels.
Wissen um die Bewegung, die Mechanik der Kräfte
ohne das Geschwätz gehetzter Schritte, flüchtiger Gesichter.
Plötzlich, zwischen ratterndem Rollen, raschelnden Zeitungen,
den Sprachen des Landes, dem dösenden Erwachen,
kritzeln Sie ein paar Worte, ein Gedicht vielleicht
und Ihre Zeile verschmilzt mit dem Horizont.
Alles scheint in Reichweite eines Atemzugs, Hügel und Städte
dienen sich in geheimnisvoller Stille zur Berührung an.
Die Gleise ein fliehender Satz ohne Satzzeichen,
in dem die Leute am Bahnsteig, Silhouetten im Regen,
heute als unwahrscheinliche Kommas fungieren.
Wer ohne Zufall oder Wunsch die Fahrt antritt,
findet sich manchmal in dieser leichten Schwebe wieder:
Was Ihr Tag auch bringen mag, lassen Sie sich langsam
von der Landschaft vor Ihren Augen durchdringen.
Für Caroline Pauwels und Marie-Hélène Caroff
Auf dem Fluss, auf den Kanälen kennen wir
keine andere Grenze als den Dunst.
Vor uns liegen nur Brücken,
die diese Menschen verbinden, die wir
hinübergehen sehen und von denen manche
seltsamerweise, wie wir finden,
nur von Mauern träumen.
Natürlich, dort ist die Schleuse, dieses Hebewerk
aus dem ein alter Klang aufsteigt,
wo die Vögel schnattern,
uns Zeit bleibt, eine Landschaft zu betrachten,
die kaum vorbeizieht, Morgengrauen und
Abendlicht zu preisen,
die heute in Kommas geträumt werden.
„Keine Grenzen!“, sagten wir uns an Bord
immer wieder, „Nicht einmal der Sprache.“
Denn plötzlich ruft man uns vom Ufer an,
ob man die Worte nun versteht oder nicht,
ist doch die Geste ähnlich,
die einfache offene Hand
in nächster Entfernung.
Wenngleich es zurecht Regionen gibt
und die Karten, die uns leiten,
uns daran erinnern, leben wir
doch auch hier, wir Reisende,
die diese Langsamkeit genießen,
mit der wir sie durchqueren wollen,
genauso frei wie die Wasserlinie,
und ohne irgendwelchen Belehrungen Gehör zu schenken.
Auf dem Fluss, auf den Kanälen
kennen wir auch weiterhin
keine andere Grenze als den Dunst.
Wie wichtig ist es, eine Schulter aus Wörtern anzubieten,
wenn die Welt bebt
oder Menschen in der Strömung
zu Strohhalmen werden?
Ein Kind sieht im Wasser
ein Reh, ein Spielzeug, ein Auto vorbeitreiben.
Dann eine Frau, die über dem Kopf
eine Tasche schwenkt wie das Tagebuch eines Lebens.
Diejenigen, die Feuerwachen geschlossen,
die bis hin zu den Sandsäcken gespart haben,
wegen der Gesetze des Marktes,
wegen anderer, rentablerer Sanduhren,
sind da und ergehen sich im Mitgefühl,
tischen uns ihre Märchen auf,
ein sauberer Knoten in ihrem Taschentuch.
Sie kennen das Lied,
letztes Jahr angestimmt, als die Sonne durchdrehte.
Ja, darum durchwühlen sie jetzt eilig die Schubladen,
um sich hinter Wörtern zu verschanzen,
gemurmelten Lippenbekenntnissen der Solidarität,
den Ellenbogen fest auf die blutige Akte gestützt.
Ach, wie sonderbar und grausam ist es, dieser Tage
das Wort auszusprechen, das in der Liebe
oft mit dem ersten Blick aufflackert
und heute
zum einzigen Leitmotiv der Entschuldigungen wird:
unvorhersehbar.
Im Flüchtlingslager Al-Shati war es der Tag des Fastenbrechens.
Trotz des Feuers in aller Munde, zogen sie sich festlich an.
Acht Kinder, zwei Frauen.
Sie kleideten sich unwissentlich zum Sterben im Kreise der Familie
Keine Zeit, in den Keller zu fliehen.
Die Hände wollten an diesem Morgen in Honig schmelzen.
Ohne zu vergessen, dass vor dem Fenster jederzeit Rauch aufsteigen kann,
mit lautem Pfeifen, lieber im Dampf eines Tees zeichnen
oder langsam das weiße Fleisch tranchieren,
mit glänzendem Messer als einziger Waffe.
Doch diesmal wurde am Ende des Fastens
aus Mädchen, Junge und Mutter
Kanonenfutter.
Andernorts geht auch der Waffenhändler
in den Keller hinab, sieht seinem Wein beim Reifen zu,
im Dämmerlicht dem Bodensatz, dieser ist zu jung, noch sauer,
warten wir auf die richtige Farbe, geschickter als Noah, der Weise
aus allen Büchern, damals in seinem Weinberg,
sollten wir der Traube das edelste Karminrot zu entlocken wissen.
Die Schüsse von dort weit entfernt, westlich von Gaza,
nannte man: Abschreckung.
Die Abschreckung zu existieren, zu atmen,
sich über Mauern hinweg zu verständigen
wie es so viele, in beiden Lagern, ersehnen,
sich gemeinsam dafür einzusetzen, nicht mehr eingesperrt zu leben,
eingeschlossen, eingekellert von der Geschichte.
Wieder acht Kinder, zwei Frauen,
eines Samstags morgens in der großen Presse
dieser einem uralten Durst geopferten Menschlichkeit.
Das Datum der Rückkehr zum Alltag nach dem Fest
haben Weise gewählt, indem sie den Mond beobachten,
der manchmal abends rot entflammt, ohne zu brennen.
Zu Eid al-Fitr feierte man in grauer Vorzeit den Regen
und die Mondfinsternis. Gestern regnete es nur Bomben,
sodass sich unsere Welt, nicht mehr das Nachtgestirn,
für lange Zeit verfinsterte,
im Zentrum einer Zielscheibe.
Aus dem überfüllten Zug,
dem Gewimmel der Menschen,
die ans Meer ziehen, um den Deich
mit ihrem Atem, mit Papierblumen zu füllen,
und ihre Wunden zu lecken,
geht er zum Theater
und betritt den leeren Saal.
Heute sollte er dort seine Wege beschreiben,
ein simpler Kratzer der Zeit, der sich in Licht verwandelt,
Gedicht wie Sand oder Kiesel, niemals Asche,
mit diesen scharfen Krallen,
die die Handfläche besänftigt gegen den Blick der anderen.
Niemand da. Vor der verschlossenen Tür
diese roten Stühle zugeklappt wie Austern,
im Stehen liest er trotzdem vor. Nicht für sich selbst.
Er schickt seine Worte in alle Winde,
dass sie als Landschaft dienen mögen, den Platz
der Abwesenden einnehmen, die sich, vielleicht,
durchströmen lassen hätten.
Bei der letzten Strophe hebt er die Stimme
schwungvoll, als ob seine Sätze
ein kleines bisschen Pulver enthielten.
Wer weiß? Die Poesie sprengt manchmal Schlösser.
Und genau das geschieht.
Durch diesen winzigen Luftzug zur Straße hin
strömen Passantinnen und Passanten langsam herein,
setzen sich, indem sie
die roten Samtmuscheln aufbrechen.
Nichts bewegt sich mehr.
Der Mann schweigt einen Moment
und diese erste Stille vor versammeltem Publikum,
die nur dem Gesetz des Glücks gehorcht,
sie gemeinsam zu durchbrechen,
zerplatzt plötzlich wie ein Gesang.
Was tut es gut, in sich ein Wort wiederzufinden,
das nicht gehorsam ist, sich nicht lässt binden.
Das Jahr hat sich eingeschlichen und wir
müssen es mit unserem Atem einrichten.
Tabula rasa machen, sagtest du.
Dabei haben wir schon den Januar
wie ein leeres Versprechen über Bord geworfen,
ein bisschen Brot in den Himmel gestreut
und mit Blicken einen unsichtbaren Vogel gezeichnet.
In einer Reihe laufen wir stets ins Chaos.
Und doch betreten wir
diese Wege voller Hindernisse
mit den Resten eines Feuers, mit Unveränderlichem
und unseren Kartenhäusern,
Sandburgen, Leidenschaften,
unseren kostbaren Samisdats, unseren Vorsätzen.
Um unsere überbordenden Träume zu erfüllen
bleibt uns auf unserem Weg
an diesem Februarmorgen
das zaudernde Wort Hoffnung.
Eine Hoffnung ohne Erzittern, Strahlen oder Müssen.
Bis wohin schieben wir es
in unseren Häusern, auf Biegen und Brechen?
Wir legen es auf den Tisch,
dann auf die gerade aufgeschlagene Seite.
Mit diesem Wort als Emblem
entlarven wir zumindest
über die üblichen Visagen hinaus
zwei Lippen, darauf ein Poem.
Als Jugendliche gingen wir uns im Stock Américain
ein Stück Eldorado kaufen.
Nur abgewetztes Leder, kein Gold,
oder dieser Jeansstoff, dem Himmel zum Spott,
der hier schon vor dem Regen ausgeblichen ist.
Wir kehrten aus Brüssel zurück, so strahlend
mit dem Bus, polierten unsere Stiefel und erhoben uns
wie mit Flügelschlag.
Lou Reed brachte mich später nach Berlin,
Jack London zum Pol und Patti Smith nach Charleville.
Mit wenigen Schatten weckte Cassavetes die Lust in mir,
eine billige Kamera zu erstehen und zu versuchen,
die andere Wahrheit der Welt zu zeigen,
die schon vor der Tür stand, in Reichweite.
Kinoclub der Schule: Auf dem Plakat
lasen wir lachend It´s terrific!
Orson maß uns mit dem Blick des Citizen Kane,
von dem wir irrigerweise annahmen,
er würde nach dem Abspann verschwinden.
So brav wir die von der Aufklärung beflügelte
Revolution paukten, beim Bier
glühten unsere Ideen weniger verlegen,
oder verharrten andächtig an weißen Gräbern.
Unterwegs, wenn wir Sonntage totschlugen,
kamen wir nicht weit,
Easy Rider mit aufgemotzten Mofas
oder Läufer über Felder und durch Nesseln,
einfache Maisdiebe,
doch großmäulig wie Kerouac.
Ich erinnere mich auch, dass ich, gerollt
in der Hand, mitgerissen von den Refrains
die »Grashalme« von Walt Whitman bei mir trug.
Heute Nacht verblasst merkwürdigerweise alles, wie du weißt,
unter einem schlecht gespannten Banner,
doch den Geist dieses Dichters,
der sich an Lincoln wandte, siehst du dort noch wandeln,
im Land des großen Fiebers,
herumirrend, als zähle er Stimmen:
Oh Käpt’n! Mein Käpt’n!
Und du sprichst ihm nach, widerwillig,
ohne weiteren Kommentar, noch Lobgesang:
Oh Käpt’n! Mein Käpt’n! Sag mir,
wohin treibt mein Amerika?
Auf jenem Weg sind die Toten Zahlen geworden.
Du kennst dich aus in Biologie, in den Gesetzen der dir nächsten Welt.
Du weißt selbst düstere, alte Worte, die von der Sonne sprechen.
Und doch siehst du die Toten nicht mehr, die sich unserem Blick entziehen.
Auf einmal, aufgeschreckt in der Gefangenschaft
schlagen deine Gedanken frei eigene Wege ein
du sehnst dich danach, zumindest ein Gesicht zu sehen,
eine Hand, vielleicht geschlossen, doch mit klaren Linien.
Ist er noch menschlich, der Zahlenmensch, gerade wie eine 1,
2 sind gemeinsam weniger einsam, gebeugt die 3,
sitzend die 4, fliehend die 5, ein umgekehrtes Herz die 6,
dann die steife 7, als 8 zum letzten Tanz,
stolz erhoben wie eine 9 vor dem Sturz?
Soll man ihm, bevor er sich zur Ruhe legt,
nicht noch das freche Lied aus Kindertagen in Erinnerung rufen?
Oder ihm einfach so auf jenem Weg mitgeben:
»Du hast Unsichtbare bekämpft, gelacht, geliebt, gespottet,
abgewimmelt, entschieden, aufbegehrt, entwaffnet,
zum Glück hast du das Schicksal aufs Äußerste herausgefordert,
hast dich getäuscht, bejaht und widersprochen,
mitunter führte dich dein Schritt jenseits der Zeit.
Nun, liebe Freundin, lieber Freund, so trügerisch und flüchtig
diese Zeilen, mögen sie dich für eine Weile
aus der Misere der Qualen und Zahlen entführen.
Hier weder Litanei noch hehre Hoffnung,
die Nacht sei dir gnädig
wie eine späte Morgendämmerung:
Wer du auch seist, ob jemand dir die Hand hielt oder nicht,
wirst du zu jenem Weg, mehr denn je.«
Die Poesie hat mich erwischt.
Ich glaube, ich habe einem Satz
im Vorbeigehen die Hand geschüttelt
oder einer Unbekannten mit einem Stern in der Tasche.
Womöglich küsste ich die Lippen eines Zufalls,
der sich zuvor mir niemals zugewandt.
Die Poesie hat mich erwischt, mit ansteckender Hoffnung.
Schon eine Weile – ein deutliches Symptom –
warf ich mit Augenblicken um mich, woraus ein Lied entstand.
An keine einstudierte Sprache mehr gebunden,
des freien Wortes mächtig, existiere ich, widersetze mich
und hüte mich vor jenen, die von einem toten Land sprechen,
wo dieses Land uns heute alle angeht.
Gerade befragt man mich, das war ja klar:
»Muttersprache?« Der Atemzug.
»Aufenthaltsberechtigung?« Das Wort.
»Wo haben Sie sich das eingefangen?« Hinter Ihrem Spiegel.
»Was haben Sie vor, Fremder?«
Worte in die Welt setzen,
auch wenn die Welt verstummt.
Die Poesie hat mich erwischt.
Hab unter meinen Fingern leichtes Fieber
Ich hätte große Lust Sie anzustecken,
von Mund zu Mund, nichts tät ich lieber.
Die Poesie nistet in einer kaum geöffneten Hand,
sie kann den Lebenslinien folgen
und sogar in einer Faust wohnen.
Sie ist der unverhoffte Atemzug, der in dir wachte,
wie Zeit legt sie sich auf den Augenblick und dauert an.
Willst du sie zähmen, nimm ein anderes Buch,
vergiss die Leute, die sie definieren.
Stets behält sie einen Vorsprung, den Flügelschlag
des Vogels, wenn du ihn fangen willst.
Ein Gedicht wartet nicht auf dich.
Es ist auch da, wo du es nicht beachtest.
Es will nicht unbedingt mehr strahlen
als ein Sprühregen, der sich amüsiert, eine Sonne, die sinkt.
Ein Gedicht bringt Blumen nicht zum Wachsen:
Es ist ein Wort zwischen zwei Lippen,
das die Welt vielleicht nicht retten,
doch das man hören wird,
es offenbart Geheimes, Liebe, Kampf.
Es wird noch singen, wenn andere niederknien
oder fliehen vor der Vielzahl ausgestreckter Arme.
Heute wirst du schreiben, gestehst du mir.
Nun gut, nur zu, gib dich der Schönheit hin.
Nach einer Seite oder ein paar Versen
eröffnen sich nicht selten Universen.
Ich sehe: Heute früh fühlst du dich so verdichtet,
du glaubst, du kannst
die Welt in Worte fassen,
den Augenblick unendlich scheinen lassen.
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