Was tut man nicht alles

Het  smelt ist DAS Buch derzeit im niederländischsprachigen Teil von Belgien. Es ist das Romandebüt der Wahlbrüsselerin Lize Spit, 27, und wird vor allem deshalb so über den grünen Klee gelobt, weil sich offensichtlich viele Leute nicht vorstellen können, dass jemand in ihrem Alter schon solche Beobachtungen formulieren kann, eine Aussage, die ich inzwischen schon öfter gehört habe und über die ich mich nur wundern kann.

Ist man denn mit 27 nicht sowieso erwachsen genug, um die pubertäre Nabelschau und den Weltschmerz hinter sich gelassen zu haben und sich anderen Themen widmen zu können? Ich glaube schon und Lize Spit beweist es eindrucksvoll.

 

Ich lese dieser Tage viele Debütromane junger Autoren und bin meist thoroughly underwhelmed. Het smelt ist eine leuchtende Ausnahme. Schon der erste Satz ist formvollendet und dieses Niveau hält die Autorin bis zum letzten Satz, unglaubliche 477 Seiten weiter, durch. Erzählt wird die Geschichte von Eva, 27, die wie die Autorin selbst aus einem Dorf in der belgischen Provinz Limburg nach Brüssel gezogen ist.

 

Die Ich-Erzählerin Eva erhält neun Jahre nach ihrer Stadtflucht eine Einladung ihres Kindheitsfreundes Pim zur Präsentation seiner neuen vollautomatischen Melkanlage, eine Feier, bei der auch seines Bruders Jan gedacht werden soll, der an jenem Tag dreißig geworden wäre. Erst pfeffert sie die Einladung wütend in den Müll, doch dann sieht sie in der Feier die Gelegenheit für einen erinnerungswürdigen Auftritt.

 

Während der Autofahrt zum Dorf ihrer Kindheit und der Vorbereitung ihrer Überraschung blickt sie zurück auf ihre Kindheit in einem chaotischen, lieblosen Zuhause mit zwei verschieden selbstmordgefährdeten Alkoholikereltern und ihren Geschwistern, die jeder auf seine Weise mit der Gefühlskälte der Eltern umzugehen versucht. Eva klammert sich an die Freundschaft mit Pim und Laurens, auch als diese bei Erreichen der Pubertät nur noch eine Erinnerung aus fernen Zeiten zu sein scheint. Um jeden Preis will sie weiter zu dieser Clique gehören. Erst ein einschneidendes Ereignis, das aus der Langeweile der viel zu langen Sommerferien geboren, durch diese aber auf keinen Fall entschuldbar ist, lässt Eva erwachen und sich scheinbar für ein selbstbestimmtes Leben entscheiden.

 

Ein Coming-of-Age-Roman, der unter die Haut geht. Selten habe ich eine so gnadenlose, detaillierte, treffende und dabei sprachlich wunderschöne Beschreibung eines öden Dorflebens voll Heuchelei und vorgetäuschter Empathie gelesen. Lize Spit seziert erbarmungslos die unschönen Seiten der Kindheit, des Familienlebens und des Zusammen- oder vielmehr Nebeneinanderherlebens einer Dorfgemeinschaft. Quälend und doch bis zur letzten Seite lesenswert stimmt dieses Buch nicht gerade hoffnungsfroh, was die Menschheit, dafür aber umso mehr, was die zukünftigen Romane von Lize Spit betrifft.